„Wir selbst“ – Roman legt untergegangenes Stück deutscher Geschichte frei
Prof. Carsten Gansel, Germanist an der Justus-Liebig-Universität Gießen, spürt verschollenen Gesellschaftsroman von Gerhard Sawatzky auf und macht Epos erstmals der breiten Öffentlichkeit zugänglich – Lesung am 22. April 2020 im Stadttheater Gießen
Nr. 42 • 3. März 2020
Es sind die Geschichten hinter der Geschichte, die Irrungen und Wirrungen hinter den Werken, die den Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Carsten Gansel, Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) interessieren. Manch literarischen Schatz hat er bereits geborgen. Jetzt ist es ihm erneut gelungen, ein großes Manuskript aufzuspüren: Gerhard Sawatzkys Gesellschaftsroman „Wir selbst“ erzählt von der „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ und damit von einer untergegangenen Welt. Der im Jahr 1938 druckfertige, aber von Stalin verbotene und vernichtete Roman über die Russlanddeutschen war jahrzehntelang verschollen. Prof. Gansel macht als Herausgeber das Epos erstmals der breiten Öffentlichkeit zugänglich und ordnet dessen Bedeutung kulturhistorisch ein.
Das Buch „Wir selbst“ erscheint am 3. März 2020 im Verlag Galiani Berlin, ergänzt mit einem umfangreichen Nachwort von Carsten Gansel und mit dokumentarischem Material zur deutschen Wolgarepublik und ihrer Literatur. Der Roman und dessen unwahrscheinliche Geschichte wird am Mittwoch, 22. April 2020, um 20 Uhr in der taT-studiobühne des Stadttheaters Gießen vorgestellt.
„Ich halte es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt Prof. Gansel. Dass er bei seinen intensiven Recherchen erneut auf einen sagenumwobenen Schatz gestoßen ist, freut ihn besonders. „Der Roman ,Wir selbst‘ gilt als der wichtigste Text der russlanddeutschen Literatur. Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig“, betont der Gießener Literaturwissenschaftler und Herausgeber.
Die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ wurde, so ist es in der Vorschau des Verlags Galiani nachzulesen, im Jahr 1918 – unter anderem auf Betreiben Ernst Reuters – gegründet und erfuhr bis zu ihrem Ende 1941 ein wechselvolles Schicksal. Autor Gerhard Sawatzky (1901 – 1944) arbeitete nach seinem Studium in Leningrad zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor in der Wolgadeutschen Republik und gilt heute als wichtigster Literat der Wolgadeutschen. Im Jahr 1938 wurde er vom NKWD verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt. Er starb am 1. Dezember 1944 im Gulag in Solikamsk in Sibirien.
Sein wichtiges Werk „Wir selbst“, vollendet 1937, wurde verboten und vernichtet. Doch Sawatzkys Witwe gelang es, das Urmanuskript bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen zu retten. In einer deutschsprachigen Zeitschrift in der Sowjetunion wurden – allerdings bearbeitet und verändert – in den 1980er-Jahren Teile des Buches abgedruckt. Prof. Gansel hat nun das Urmanuskript in Russland aufgespürt.
„Wir selbst“ erzählt, so die Verlagsankündigung, in häufigen Szenenwechseln zwischen Land und Stadt aus der Zeit zwischen 1920 bis 1937 vor allem von einem jungen Liebespaar: Elly Kraus, der Tochter einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die als Kind auf der Flucht vor der Roten Armee allein in Russland zurückblieb, und Heinrich Kempel, dessen Kindheit auf dem Land während des Krieges von Hunger und Entbehrung geprägt ist und der schließlich Ingenieur wird.
Prof. Dr. Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur- und Germanistische Mediendidaktik an der JLU und beweist mit seinem Team am Institut für Germanistik immer wieder einen besonderen literarischen Spürsinn. Im Jahr 2016 hat der Gießener Literaturwissenschaftler mit dem von ihm herausgegebenen Band „Durchbruch bei Stalingrad“ national und international für Furore gesorgt. Es war ihm gelungen, die 1949 vom russischen Geheimdienst konfiszierte Urfassung des großen Antikriegsromans von Heinrich Gerlach in russischen Archiven wiederzufinden. Ein Jahr später gab er Heinrich Gerlachs „Odyssee in Rot“ heraus. Im Sommer 2016 erschien die Originalfassung des Weltbestsellers „Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada mit einem ausführlichen Nachwort von Prof. Gansel. An der Entdeckung des Originalmanuskripts hatte der Gießener Literaturwissenschaftler maßgeblichen Anteil. Gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat er die handschriftliche Urfassung des Weltbestsellers „Kleiner Mann – was nun?“ entziffert. Der um ein Drittel umfangreichere Roman ist im Aufbau Verlag Berlin erschienen.
- Termin
Buchvorstellung am 22. April 2020 um 20 Uhr, taT-studiobühne,
Stadttheater Gießen, Südanlage 1 / Berliner Platz, 35390 Gießen.
Prof. Gansel berichtet im Gespräch mit Stadttheater-Chefdramaturg Harald Wolff von der dramatischen Geschichte des Buches „Wir selbst“. Schauspielerin Johanna Malecki und Schauspieler Pascal Thomas lassen den Roman in ausgewählten Episoden zu Wort kommen. Karten kosten 5 Euro. Gießener Studierende können von ihrem Semesterticket Gebrauch machen.
- Weitere Informationen
Gerhard Sawatzky: Wir selbst. Roman Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen von Carsten Gansel, ca. 880 Seiten, gebunden, 36 Euro, Verlag Galiani Berlin, März 2020,
ISBN 978-3-86971-204-8 Verfügbar auch als E-Book
www.uni-giessen.de/fbz/fb05/germanistik/abliteratur/glm/uber-uns/wimi/carsten-gansel
www.galiani.de
- Kontakt
Prof. Dr. Carsten Gansel
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