Raubgut - Geraubte Bücher aus der NS-Zeit
Ausstellung in der Universitätsbibliothek vom 20.09.2012 - 15.02.2013
Seit Ende der 90er Jahre – ausgelöst durch die 1998 auf einer internationalen Konferenz inWashington verabschiedeten Principles with respect to Nazi-confiscated art – hat in den Museen, Archiven und Bibliotheken in Deutschland eine systematische Suche nach „Raubgut“ in den eigenen Beständen begonnen. Der Begriff „Raubgut“ erinnert daran, dass mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten das Deutsche Reich kein Rechtsstaat mehr war: ganze Bevölkerungsteile wurden systematisch verfolgt und entrechtet. Ihre Angehörigen konnten daher auch bei Vermögenstransaktionen nicht mehr gleichberechtigt handeln. Unter „Raubgut“ werden daher hier alle unrechtmäßigen – auch die vordergründig legalen, d.h. mit den Nazi-Gesetzen konformen – Sammlungserweiterungen von 1933 bis 1945 verstanden, sei es, weil die Objekte von ihren Besitzern unter Zwang veräußert werden mussten oder weil sie von Behörden beschlagnahmt oder enteignet wurden.
Auch in den Beständen der Universitätsbibliothek Gießen befindet sich Raubgut. Dieses zu ermitteln und nach Möglichkeit den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, war das Ziel, das 2012, im Jubiläumsjahr der Bibliothek, erreicht werden sollte. Die gefundenen Bücher und ihre Herkunft sind im Online-Katalog und über die Lost-Art-Datenbank recherchierbar, die von der Koordinierungsstelle für Kulturgutdokumentation und Kulturgutverluste betreut wird, eine von Bund und allen Ländern finanzierte Einrichtung beim Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt in Magdeburg.
Da die Bibliothek 1944 durch einen Bombenangriff fast völlig zerstört wurde und 90% ihrer Bestände und nahezu alle Akten verbrannten, ist die Quellenlage äußerst dürftig. Die Suche nach verdächtigen Besitz- oder Lieferantenvermerken in den noch erhaltenen Büchern bedeutete das zeitintensive Durchsehen von über neunhundert Regalmetern, auf die die damaligen Bestände heute verteilt sind.
Den größten Fund an „Raubgut“ stellt die Bibliothek des Gießener Rabbiners Dr. David Sander dar: 130 Bände theologischer Fachliteratur sind seit 2003 identifiziert worden. David Sander lebte bis zu seinem Tod 1939 in der Landgrafenstraße 8 in Gießen. Seine Witwe Johanna und seine Tochter Bertha wurden im September 1942 deportiert. Nur Johanna Sander überlebte den Holocaust und siedelte nach dem Krieg nach zwei Jahren in Gießen nach Südfrankreich über, wo ihre 1938 geflohene Tochter Flora lebte. Die erneuten Recherchen zur Vorbereitung der Ausstellung brachten für den Fall Sander eine überraschende Erkenntnis:
Die Sander-Bibliothek ist vermutlich Ende 1941 über den „Reichsbund Deutsche Familie“ in die UB Gießen gelangt. Die „Verwertung erfolgte mit Einverständnis der NSDAP“, so die handschriftliche Chronik der UB. Es ist denkbar, dass Johanna Sander durch finanzielle Repressalien des NS-Regimes gezwungen, die Bibliothek ihres Mannes vermutlich weit unter Wert „abgeben“ musste. Bislang wurde davon ausgegangen, dass die Bücher erst 1942 nach der Deportation in die Bibliothek gelangt waren.
Die Sander-Bände sind in der UB Gießen separiert und können zu wissenschaftlichen Zwecken eingesehen werden. Der Provenienznachweis, d.h. der Hinweis auf den früheren Besitzer David Sander, ist über den Online-Katalog zu finden.
Bereits 2009 hat die UB Nachkommen der Familie Sander kontaktiert. Die Angehörigen verzichten aber auf eine Restitution und möchten ihre Anonymität wahren. Für die Stolpersteine für Bertha und Johanna Sander und Flora Michaelis, geb. Sander in der Landgrafenstraße 8 hat die UB Gießen vor drei Jahren die Patenschaft übernommen.
Über die „Reichstauschstelle“, die Preußische Staatsbibliothek und andere, teilweise nicht mehr zu klärende Wege gelangten weitere Bücher in die UB und die Durchsicht ergab außerordentliche Vorbesitzer:
Leo Baeck, Ludwig Marcuse, Hannah Karminski, Ernst Samuel, Heinz Hartmann u.a.
Einige Bände von jüdischen Gemeinden aus Dresden, Berlin, Prag und Troppau konnten ebenfalls identifiziert werden. Auch Bücher christlicher Organisationen wie der Berliner „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ und der „Apologetischen Centrale“ fanden sich in den Regalen.
Außerdem finden sich Spuren von Bibliotheken unterschiedlicher „missliebiger“ Organisationen:
Die Gleichschaltung der freien Gewerkschaften ging in Gießen einher mit der Stürmung des Gewerkschaftshauses des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Schanzenstraße 18. Die dort untergebrachte Bibliothek wurde der UB Gießen 1935 von der Nachfolgeorganisation „Die Deutsche Arbeitsfront“ durch Vermittlung eines Bibliothekars übergeben. Die Bände wurden in den Bestand eingearbeitet, sind aber 1944 fast alle verbrannt. Lediglich einige wenige Bände, die vermutlich als Dubletten im unzerstörten Keller des Verwaltungsgebäudes dem Brand entgingen, wurden später in den Bestand aufgenommen und konnten identifiziert werden.
Die Spur einer Bibliothek, die sich kurzzeitig in der UB Gießen befand, verliert sich leider gänzlich: 1933 löste sich die Gießener Freimaurerloge „Ludewig zur Treue“ auf Druck der NSDAP auf und schenkte der Universitätsbibliothek Gießen ihre 850 Bände zählende Bibliothek. In beiderseitigem Interesse hoffte man, die einzigartige Sammlung von Freimaurerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts am Ort erhalten zu können. Diese Hoffnung war trügerisch: Die Bibliothek wurde von der „Gestapo“ wieder abgeholt und wie das Mobiliar und die Museumsgegenstände aus dem Logengebäude nach Berlin abtransportiert. Recherchen der nach dem Krieg wiedergegründeten Gießener Loge nach dem Verbleib ihres Besitzes waren bislang erfolglos.
Geraubte Bücher aufzufinden, zu sammeln und zurückzugeben war bereits 1945 für die amerikanische Militärregierung ein wichtiges Anliegen. Das „Offenbach Archival Depot (OAD)“ war ein solcher „collecting point“. Die UB Gießen schickte 1946/47 Bände „unklarer Herkunft“ nach Offenbach und erhielt auch Kisten mit Büchern, deren Herkunft sich nicht mehr genau klären ließ, nach der Auflösung des OAD im Jahr 1949 von dort. Die Bücher wurden sukzessive in den Bestand aufgenommen. Bei diesen Bänden konnten noch einige wenige Provenienzen geklärt werden.
Insgesamt konnten bislang über 800 Bücher im Bestand als mutmaßliches „Raubgut“ identifiziert werden. Um Restitution, d.h. die Rückgabe der Bücher an die früheren Besitzer bzw. deren Erben, wird sich die Universitätsbibliothek Gießen weiter bemühen.
Begleitend fand am 24.1.2013 ein Fachsymposium "NS-Raubgut in hessischen Bibliotheken" in Gießen statt.
Dazu ist im Oktober 2014 ein Tagungsband erschienen.