Inhaltspezifische Aktionen

Stehende, halb entblößte weibliche Gestalt: Aphrodite

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

 

Stehende, halb entblößte weibliche Gestalt: Aphrodite, Inv. T I-33  

Provenienz: Kunsthandel Athen. Erworben von Bruno Sauer mit Sondermitteln zum Universitätsjubiläum 1907.

 

Vorderseite aus der Matrize; Rückseite glatt, nicht ausgearbeitet. Sehr großes hoch rechteckiges Brennloch.

Graubrauner (7,5YR 6/3) Ton. Reichlich weiße Engobe, blaue Farbspuren am Saum und am umgeschlagenen Zipfel des Chitons.

Erhaltung: Aus mehreren Bruchstücken zusammengesetzt, Kopf angeklebt. Haarschopf auf der Kalotte verloren. An der Rückseite dreieckiges Fragment aus der rechten oberen Ecke neben dem Brennloch ausgebrochen. Verletzungen an der rechten Schulter und an der rechten Seite des Halses; kleiner Defekt am Gewand auf der linken Schulter. Restauriert und konserviert: L. Hünnekens (Hrsg.), Werkstattpanorama (2006) S. 36

Maße: H: 26,2 cm; B: 9,4 cm; T: 6,5 cm.

Lit.: D. Graen – M. Recke, Herakles & Co (Gießen 2010) 71-72 Abb. 33; E. Neuffer, Griechische Terrakotten, Heimat im Bild. Beilage zum Gießener Anzeiger 17, 1930, 67 Abb. 3; M. Recke – O. Schneider, Erhaltenswert. Akamas 3 (Gießen 2009) 23 Abb. 14.

 

Beschreibung: Auf einer runden profilierten Plinthe steht eine weibliche Figur, deren Gewänder von der rechten Schulter herab geglitten sind und den Oberkörper mit beiden Brüsten bis zum Rippenrand freigeben. Vom dünnen Chiton sind nur feine Falten am oben umgeschlagenen Saum, zwischen den beschuhten Füßen und auf dem rechten Fußrücken zu sehen. Darüber liegt ein stoffreicher Mantel, der den eingestützten linken Arm umhüllt und in steilen Falten bis zum Boden herabfällt. Der untere Mantelsaum verläuft schräg vom rechten Fuß über das linke Sprunggelenk nach oben. Über dem belasteten linken Bein rundet sich die Hüfte. Das rechte Bein ist entlastet und mit leicht gebeugtem Knie etwas weiter vorn aufgesetzt. Der rechte Arm hängt herab, die Hand greift in den Stoff und zieht den Mantel etwas zur Seite. Der linke Arm ist angewinkelt, die Hand mit dem Handrücken in die Taille gestützt.
Der leicht gesenkte Kopf wendet sich kaum merklich nach rechts. Lange um einen Reifen geschlungene Haarsträhnen rahmen die hohe Stirn; sie sind oben auf der Kalotte zu einem Bündel zusammengeführt.
Das ovale Gesicht verjüngt sich von der Augenpartie an über die glatten Wangen bis zum runden Kinn. Kleine verhältnismäßig weit auseinander stehende Augen mit bandförmig angegebenen Oberlidern liegen unter hohen Orbitalen. Die vollen Lippen bilden einen kleinen geschlossenen Mund, dessen Breite die der Nasenflügel nicht ganz erreicht.

 

Kommentar: Eine gegen 1930 entstandene Photographie zeigt die Figur mit steil aufragendem Schopf aus zwei dicken, eng aneinander gefügten in sich gedrehten Haarbündeln [1]. Auch auf den Schultern lagen ursprünglich – nach Ausweis der Parallelen – lange gewellte Strähnen, die jedoch schon damals nur noch an den Abdrücken und Erosionen auf Hals und Schultern zu erkennen waren.
Der beinahe vollständig entblößte Oberkörper und die hervortretende linke Hüfte, deren gefällige Rundung von der anmutig eingestützten Hand unterstrichen wird, lassen keinen Zweifel an der Deutung dieser Figur als Aphrodite. Durch die Position der unterschiedlich belasteten Beine und den Hüft-Schwung ist sie mit dem Statuen-Typus Aphrodite "Louvre-Neapel" verbunden [2]. Von diesem unterscheiden sie jedoch die andersartige Drapierung des Gewandes, das beide Brüste unbedeckt lässt, und die abweichende Gestik. Der linke in die Hüfte gestützte Arm ist ein Kennzeichen der Porträtstatue des Sophokles, die gegen 325 v. Chr. im neu gestalteten Athener Dionysos-Theater aufgestellt wurde und sich in der bekannten leicht überlebensgroßen römischen Marmorkopie aus dem Lateran erhalten hat [3].Jenes Arm-Motiv tritt bald in der Koroplastik auf, wo es vervielfältigt und abgewandelt wird [4]. Eine Statuette aus der Sammlung Loeb in München könnte als Vorgängerin der Gießener Aphrodite gelten [5]. Dafür sprechen die Ähnlichkeiten im Standmotiv, die Bewegung des linken Armes und die Neigung des Kopfes; doch weichen die beiden Exemplare in der Manteldrapierung und der Haltung des rechten Armes voneinander ab. Eng vergleichbare Vorbilder größeren Formats fehlen. Die von U. Mandel vorgeschlagene Verbindung mit Athena Velletri [6] überzeugt weniger als die ebenfalls von ihr gesehene Übereinstimmung mit Asklepios-Statuen im Typus Giustini [7].
Die Gießener Terrakotta-Figur ist rundplastisch konzipiert. An der linken Seite wird der Blick vom angewinkelt nach außen gerichteten Arm und den Steilfalten des Mantels aufgehalten. So dürfte der Prototyp dieser Statuette am Ende der klassischen Zeit, an der Schwelle zum Hellenismus, geschaffen worden sein. Die helle Tonfarbe weist nach Böotien, wo auch die meisten Parallelen entstanden sind.

Einordnung: letztes Viertel des 4. Jhs. v. Chr. Vermutlich aus Böotien.

     

 

 



[1] Neuffer a. O. 67, Abb. 3.

[2] P.Karanastassis, Untersuchungen zur kaiserzeitlichen Plastik in Griechenland. I. Kopien, Varianten und Umbildungen nach Aphrodite-Typen des 5. Jhs. v. Chr., AM 101, 1986, 207-291 Taf. 46-50. 52. 55-62. 65; Terrakotta-Statuette mit Lampadion-Frisur: P. C. Bol – E. Kotera, Liebighaus Frankfurt am Main, Bildwerke aus Terrakotta (Melsungen 1986) 104-106 Abb. 54.

[3] R. Krumeich, Die lykurgische Tragikerweihung< in: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit (Berlin 2002) 542-544 Kat.-Nr. 408.

[4] Aphrodite-Statuetten: U. Mandel, Kleinkunst der späten Klassik: Koroplastik, in: P. C. Bol, Die Hohe Klassik: Nichtphidiasische Attische Bildwerke, in: ders. (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst II Klassische Plastik (Mainz 2004) 450 Abb. 412. 414; Stemmer a. O. 87-89 Abb. E 10. "Tanagräerinnen" z. B. Bürgerwelten a. O. 87 ff. Abb. 5. 18. 29. Rechter Arm in die Hüfte gestützt bzw. nach hinten genommen: Mandel a. O. 460 Abb. 438. 439.

[5] Mandel a. O. 448 Abb. 412; J. Sieveking, Die Terrakotten der Sammlung Loeb (München 1916) 24 Taf. 33.

[6] Mandel a. O. 434 f. Abb. 138.

[7] dies. a. O. 435 Abb. 265. 266 (dazu Geominy 2004 a. O. 297); E. Berger, Zwei neue Skulpturenfragmente im Basler Ludwig-Museum: Zum Problem des >Asklepios Giustini< in: Festschr. Ulrich Hausmann (Tübingen 1982) 63-71 Taf. 9, 2-4. Taf. 11,1.