Katharina Stornig berichtet über den interdisziplinären Workshop Data Collection and Visualization of Networks in History and Culture des ZMI, GCSC und Herder-Instituts
Katharina Stornig berichtet über den interdisziplinären Workshop Data Collection and Visualization of Networks in History and Culture des ZMI, GCSC und Herder-Instituts
Die Netzwerkforschung erlebt aktuell eine Konjunktur. Diese erfasste in den letzten Jahren auch die Geschichts- und Kulturwissenschaften, welche sich zunehmend mit den Möglichkeiten und Grenzen von zum Beispiel digitalen Netzwerkanalysen und der Visualisierung von Netzwerken auseinandersetzen. Der Begriff des "Netzwerks" erfährt dabei durchaus unterschiedliche Interpretationen und Konnotationen: So wird er in manchen Studien als Quellenbegriff operationalisiert und als Selbstzuschreibung von AkteurInnen betrachtet, die sich explizit als Netzwerk verstanden und beschrieben. Andere Studien wiederum verwenden den Begriff eher metaphorisch, um unterschiedliche (kommunikative) Bezüge zwischen Personen und/oder Institutionen deutlich zu machen.
Die historische Netzwerkforschung im engeren Sinn geht hingegen auf sozialwissenschaftliche Theorien und Methoden zurück. Sie versteht die Netzwerkanalyse als ein Instrument, welches es uns erlaubt, komplexe soziale Beziehungen und Bezüge auf Basis von bestimmten – zum Beispiel aus Textquellen erhobenen und kritisch reflektierten – Daten systematisch zu erfassen und darzustellen. Der erfolgreiche Einsatz der digitalen Netzwerkanalyse erfordert folglich nicht nur ein fundiertes Verständnis von ihrem analytischen Potential in bestimmten Forschungskontexten, sondern auch eine gewisse Vertrautheit mit den einschlägigen Programmen und Medien. Die Vermittlung dieses Wissens sowie die kritische Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen dieses methodischen Zugriffs aus Sicht der Geschichts- und Kulturwissenschaften standen im Zentrum des Workshops, welcher von Dr. Martin Stark (Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Aachen), einem Experten und langjährigen Kenner des Feldes der historischen Netzwerkforschung, geleitet wurde.
Der Workshop umfasste im Wesentlichen zwei Teile. Der erste Teil fand am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen statt und bestand aus einem öffentlichen Vortrag von Martin Stark mit anschließender Diskussion. Stark präsentierte eine Fallstudie zum Kreditwesen im ländlichen Württemberg in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Gemeinde Ohmenhausen diskutierte er die soziale Einbettung des lokalen Kreditmarktes und fragte insbesondere nach der Bedeutung von sozialen und familiären Netzwerken für die Kreditvergabe vor dem Hintergrund sich wandelnder rechtlicher Rahmenbedingungen. Dabei konnte Stark deutlich machen, dass die Wichtigkeit familiärer Netzwerke am Ohmenhausener Kreditmarkt nach 1850 tendenziell abnahm, was er darauf zurückführte, dass neue Gesetze zunehmend Rechtssicherheit für Kreditgeber hergestellt und somit das Ausfallrisiko reduziert hatten. Im Zentrum der anschließenden Diskussion standen jedoch weniger Starks empirische Ergebnisse als vielmehr sein methodisches Vorgehen: Im Besonderen wurde dabei Starks Erhebung von Daten aus "klassischen" Quellen der Geschichtswissenschaft (vor allem den diversen Medien des Kreditmarktes wie zum Beispiel Kreditbüchern, Vermögensverzeichnissen, Steuerlisten oder Kirchenregistern) und ihrer Verarbeitung und Analyse mittels digitaler Instrumente diskutiert, welche er genutzt hatte, um die sozialen Bezüge der zu erforschenden Kreditvergaben zu erfassen und zu visualisieren. Kritisch hinterfragt wurde auch das Verhältnis zwischen Aufwand und analytischem Nutzen der digitalen Datenerhebung und ihrer Visualisierung.
Die Auseinandersetzung mit den Instrumenten der Digitalen Netzwerkforschung und ihren Möglichkeiten und Grenzen bildete einen wesentlichen Aspekt des zweiten Teils der Veranstaltung, einem praktisch- und diskussionsorientierten Workshop, zu dem sich eine Gruppe von insgesamt 24 Teilnehmenden am folgenden Tag im Herder-Institut in Marburg versammelte. Im Rahmen des Workshops wurden nicht nur der Begriff des Netzwerks und sein heuristisches Potential, sondern auch sein analytischer Mehrwert für die historische und kulturwissenschaftliche Forschung diskutiert. Dies geschah stets sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene. In mehreren Gruppendiskussionen entwarfen die Teilnehmenden diverse Netzwerke, welche nicht nur Personen und Institutionen umfassten, sondern auch anders gelagerte Beziehungen und Bezüge, wie zum Beispiel semantische Netzwerke, mit einschlossen. Darüber hinaus beschäftigte sich der Workshop mit der Frage der Erhebung von relevanten Daten aus Textquellen und der Umwandlung von textbasierten Netzwerkdaten in Soziogramme und/oder Matrizen. Mit Palladio und Vennmaker führte Stark zudem nicht nur einschlägige Software zur Analyse und Visualisierung von Netzwerken ein, sondern stellte deren Operationalisierung auch zur Diskussion. Dies geschah stets in engem Bezug zu den Forschungsinteressen und -schwerpunkten der Teilnehmenden, welche zum Teil ihre eigenen Forschungsdaten präsentierten und die entsprechenden Visualisierungen abschließend im Plenum diskutierten.
Organisiert und durchgeführt wurde der interdisziplinäre Workshop, der am 15. und 16. November 2017 in Gießen und Marburg stattfand, in Kooperation zwischen der ZMI-Sektion 4, dem GCSC und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Für die Organisation verantwortlich waren Prof. Katharina Stornig (ZMI-Sektion 4/GCSC), Dr. Elke Bauer und Dr. Victoria Harms (jeweils Herder-Institut).
(12.12.2017, Katharina Stornig)