Sitzender Knabe (Ephebe?) mit Sonnenhut
Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai
Sitzender Knabe (Ephebe?) mit Sonnenhut, Inv. T I-16. Alte Inv.-Nr. 32. Rotbrauner (2.5YR 6/6) Ton. Reichlich weiße Engobe. In den Mantelfalten Reste blauer Bemalung. Hellrot im Haar, vor allem am Hinterkopf. Spuren von Rosa am rechten Unterschenkel, an Hals und Brust sowie an der Stirn. Zustand: Aus zahlreichen Fragmenten zusammengesetzt. Teilweise versintert. Vordere Hälfte des Hutes verloren[1]. Nase bestoßen. Maße: H: 14,2 cm; B: 6,2 cm; T: 5,2 cm. Lit.: E. Neuffer, Griechische Terrakotten, Heimat im Bild 17, 1930, 67 f. Abb. 5; M. Recke (Hrsg.), Antike Kunst aus der Sammlung der Justus-Liebig-Universität (Gießen 2010) 23. 27 Abb. 49. |
Beschreibung: Ein Knabe sitzt auf einer rechteckigen Truhe, stützt sich mit der linken Hand auf den überstehenden Deckel und hat die Rechte in den Schoß gelegt. Er trägt einen geschwungenen Reisehut, den Petasos, auf dem Kopf, sowie einen faltenreichen, auf der rechten Schulter geknüpften Mantel, der den Körper einschließlich des linken Armes umhüllt und bis über die Knie reicht. Nur der rechte Arm ist unbedeckt. Auf der rechten Schulter, verunklärt durch zum Teil abblätternde Engobe, deutet sich ein kurzer Chiton-Ärmel an. Enge Parallelen[2] bestätigen dieses Detail. Zwischen der Schulter und der linken Hand spannt sich eine Schrägfalte, die sich mit vertikalen und horizontalen Falten zu einem annähernd gleichschenkligen Dreieck verbindet. Bogenfalten laufen über den linken Arm.
Der Knabe nimmt eine etwa frontale Sitzhaltung in der Mitte der Truhe ein. Die Beine weisen leicht zur rechten Seite, die Füße, in hohen Stiefeln, berühren den Boden nicht.
Der rundliche Kopf ist leicht gesenkt und nach rechts gedreht. Kurze Haarsträhnen rahmen die hohe Stirn und die Schläfen bis zu den glatten Wangen. Augen, Nase und Mund stehen nahe beieinander.
Der Mund ist geschlossen, das Kinn wirkt spitz. Sorgfältig gebildete Lider fassen die Augen ein.
Kommentar: Die Körperform, Kopf und Gesicht sind eher die eines jugendlichen Erwachsenen als diejenigen eines Knaben[3], doch die baumelnden Beine verleihen der Gestalt etwas Kindliches. Vermutlich ist ein Knabe an der Schwelle zum Jünglingsalter gemeint. Die Drapierung der Chlamys ähnelt, besonders in der Art wie sich der Stoff hinter dem rechten Oberarm bauscht, dem Faltenwurf des Mantels bei einem Typus stehender junger Männer im Habitus des "Reisenden"[4]. In gleicher Weise legt sich das kurze Haar dicht um den Kopf und die hohe Stirn. T I-16 erinnert in den physiognomischen Einzelheiten an den bogenspannenden Eros des Lysipp[5]. Der pyramidale Aufbau aber weist bereits an den Beginn des 3. Jhs. v. Chr[6]. Wie die Mehrzahl der genannten Parallelen dürfte die Gießener Statuette in Böotien (Tanagra) entstanden sein.
Einordnung: Anfang des 3. Jhs. v. Chr.; wohl aus Böotien.
[1] Auf einem alten Photo noch vollständig, Neuffer a. O. 1930, 67 f. Abb. 5.
[2] S. Besques, Figurines et reliefs grecs en terre cuite (Paris 1994) 90 Abb. 80; auf einem Felsen sitzend, Füße berühren den Boden: B. Csornay, Ókori Művézet (Budapest 1987) 8 Nr. 17 Taf. 21; R. Higgins, Tanagra and the Figurines (London 1987) 150. 154 Abb. 188 (Petasos verloren); C. E. Vafopoulou-Richardson, Greek Terracottas. Ashmolean Museum (Oxford 1981) 38 Abb. 38 (mit Wulstkranz); Winter II 1903, 256, 5; sehr ähnlich auch im Antikenmuseum Basel Inv. Kuhn 34; vergleichbar ferner die Marmorstatue des Knaben von Tralleis, R. Özgan, Die griechischen und römischen Skulpturen aus Tralleis. AMS 15, 1995, 114-125 Taf. 32.
[3] "Soldier-ephebe", L. Burn – R. Higgins, Cat. of Greek Terracottas in the British Museum 3 (London 2001) 64-69 Nr. 2118-2121. 2130-2135 Taf. 21-25.
[4] Vgl. Gießen T I-26; Burn – Higgins a. O. 65 Nr. 2120 Taf. 22; R. Wünsche – M. Steinhart, Sammlung James Loeb (Lindenberg im Allgäu 2009) 119 Abb. 54.
[5] M. Bieber, The Sculpture of the Hellenistic Age (New York 1961) 38 Abb. 87-89, hier vor allem die Replik in Baltimore Abb. 88; H. Döhl, Der Eros des Lysipp (Diss. Göttingen 1968); P. Moreno, Opere di Lisippo, in: Lisippo. L'Arte e la Fortuna (Monza 1995) 111-129 Taf. 119-121.
[6] G. Krahmer, Stilphasen der hellenistischen Plastik, RM 38/39, 1923/24, 154-157.