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Soziale Medien in der Therapie von Essstörungen: Zwischen Risiko und Motivation

22.05.2024: Du scrollst durch deinen Instagram-Feed und siehst perfekt inszenierte Fotos scheinbar makelloser Körper. Was auf den ersten Blick wie die perfekte Welt aussieht kann besonders für Menschen mit Essstörungen, wie Anorexia nervosa, zu einem risikoreichen Trigger werden. Da Soziale Medien häufig fester Bestandteil des Alltags vieler Betroffener sind, stellt sich die Frage, welche Rolle Soziale Medien aktuell in der Therapie von Essstörungen und wie die Social-Media-Plattformen sogar konstruktiv genutzt werden können? Dieser Frage bin ich - Livia Schygulla - in meiner Bachelorthesis nachgegangen.

Was wissen wir schon zu Sozialen Medien und Essstörungen?

Anorexia nervosa ist eine psychische Erkrankung, die mit einer starken selbstherbeigeführten Gewichtsabnahme und einem negativen Selbstwert einhergeht. Die Rolle von Sozialen Medien bei der Entwicklung von Essstörungen ist bereits gut erforscht. Während der Essstörung können Soziale Medien von den Betroffenen zur Aufrechterhaltung der Symptome als Teil der Pro-Ana-Community oder zur Inspiration während der Genesung als Teil der Recovery-Community genutzt werden. Innerhalb der Recovery-Community konnten durch die Social-Media-Nutzung von Betroffenen bereits therapiefördernde und motivierende Aspekte sowie risikoreiche, essstörungsverstärkende Inhalte und Verhaltensmuster erkannt werden. Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es allerdings noch keine allgemeinen Richtlinien, die zeigen wie Soziale Medien in der Therapie durch das Fachpersonal integriert werden sollten und wie eine konstruktive Social-Media-Nutzung für Personen mit Essstörung aussehen kann. Deswegen habe ich mich in meiner Forschung genau damit beschäftigt.

 

Vom Forschungsdesign zu den Daten – die Methodik

Zur Beantwortung meiner Forschungsfrage: „Wie kann ein konstruktives Nutzungsverhalten in Sozialen Medien für Personen mit Essstörung aus der Perspektive von Therapeut:innen aussehen und dieses in die Therapie integriert werden?“ war schnell klar, dass ein qualitatives Forschungsdesign mit Therapeut:innen als Expert:innen im Interview der geeignete Weg ist. Die Anorexie-Therapie findet meist interdisziplinär statt, sodass es nicht die eine Zielgruppe der Therapeut:innen gab. Ich rekrutierte also verschiedene Praxen und Einrichtungen mit dem Schwerpunkt Essstörungen aus der ambulanten und stationären Ernährungs- und Psychotherapie. Die Resonanz war zum Glück gut, sodass ich fünf halbstrukturierte Expert:inneninterviews aus verschiedenen Behandlungsbausteinen der Praxis führen konnte und analysierte die Transkripte mittels der inhaltlich strukturierenden, qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und der Software MAXQDA.

Während der Interviews stellte sich heraus, dass Soziale Medien noch nicht zum Standard einer jeden Therapiepraxis gehören. Die Expert:innen besprechen Soziale Medien in der Therapie abhängig vom eigenen Vorwissen zum Thema. Aber dennoch sehen alle Befragten einen Bedarf, die Rolle Sozialer Medien in der Essstörung zu explorieren.

Abb. 1: Forschungsdesign, Methodik und Ergebnisse der Arbeit, Quelle: L. Schygulla, eigene Darstellung

 

Social Media in der Therapie: Was machen die Therapeut:innen damit?

Social-Media-Inhalte können bereits als Entstehungsfaktor der Essstörung eine Rolle spielen und sollten somit schon in der Anamnese abgefragt werden. Anhand der konsumierten Beiträge und der verfolgten Accounts können Themen zu Ernährung und Körperbild anschaulich diskutiert werden.

Ein wichtiger Fokus im Gespräch sollte sein: Tut es dir gut diese Inhalte zu konsumieren? Aktive Therapeut:innen können an dieser Stelle auch konkrete Empfehlungen geben, wie ein konstruktiver Instagram-Feed aufgebaut werden kann. Sehr vulnerable Patient:innen können sich jedoch durch einen kompletten Social-Media-Verzicht zeitweise vor äußeren Einflüssen schützen. Im Anschluss sollte dann aber ein konstruktiver Umgang mit den Medien in der Therapie erarbeitet werden.

Aus den Interviews konnte ich fünf konstruktive und fünf risikoreiche Faktoren im Zusammenhang mit der Nutzung von Sozialen Medien ermitteln.

Zu den konstruktiven Faktoren gehören:

  • die Fokussierung auf die Genesung durch eine inhaltliche oder zeitliche Beschränkung des Medienkonsums
  • ein realistischer und kritischer Blick auf die konsumierten Inhalte
  • ein unterstützender Austausch zu Therapieinterventionen
  • das Trainieren des Zugangs zu den eigenen Gefühlen der Betroffenen sowie
  • ein erfolgreiches Selbstmanagement mit Selbstreflexion und Verantwortungsbewusstsein für die eigene Gesundheit

Dagegen wurden als potenzielle Risiken identifiziert:

  • Fehlinformationen zu Körper und Ernährung
  • Vergleiche auch unter Mitpatient:innen
  • emotionale und zeitliche Überforderung
  • Unkontrollierbarkeit der Medieneinflüsse
  • Ausnutzung der Vulnerabilität durch Werbung

Die Risiken könnten durch das Etablieren der konstruktiven Faktoren abgemildert werden. Sofern die Anorexie-Patient:innen über ausreichend kognitive Reflexionsfähigkeit und Therapiemotivation verfügen, können diese, laut den Expert:innen, auch in der Lage sein ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen.

 

Abb. 2: Konstruktives Nutzungsverhalten in Sozialen Medien für Personen mit Essstörung aus Sicht der Therapeut:innen, Quelle: L. Schygulla, eigene Darstellung

Müssen jetzt also alle Therapeut:innen auf Instagram aktiv sein?

Jein. Eine eigene Präsenz der Therapeut:innen auf Sozialen Medien kann eine Hilfe sein, die Erzählungen der Patient:innen nachvollziehen zu können und sich ein eigenes Bild von den Inhalten machen zu können. Es zeigte sich aber, dass ein eigener Social-Media-Account von Seiten der Therapeut:innen nicht zwangsläufig notwendig ist, um Soziale Medien zeitgemäß in der Therapie zu behandeln. Eine eigene Recherche in Sozialen Medien kann für die Therapeut:innen als Türöffner dienen. Personen aus dem privaten oder beruflichen Umfeld, z. B. ehemalige Patient:innen, können den Therapeut:innen dann weiterführende Informationen z. B. zur Prüfung von Instagram-Accounts, zukommen lassen. Die Hauptinformationsquelle sind aber die Patient:innen selbst, die auf Nachfrage innerhalb der Therapie über ihr Nutzungsverhalten erzählen und den Therapeut:innen die aktuell interessanten Medieninhalte am Smartphone zeigen. Wichtig hierbei ist eine offene und wertfreie Exploration des Medienverhaltens der Patient:innen durch die Therapeut:innen.

 

Fazit

Meine Ergebnisse zeigen, dass es bisher keinen einheitlichen Ansatz im Umgang mit Sozialen Medien unter den befragten Therapeut:innen gibt. Daher besteht ein dringender Bedarf an allgemeinen Richtlinien zur Integration von Sozialen Medien in die Therapie von Essstörungen. Darüber hinaus unterstreichen meine Erkenntnisse die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen zur Vermittlung von Medienkompetenz, insbesondere bei Jugendlichen.

Ich danke den Expert:innen, die sich die Zeit genommen haben mit mir das Thema „Soziale Medien und Essstörung: Sicht der Therapeut:innen zur konstruktiven Nutzung“ anzugehen und mir während der Interviews sehr interessante Einblicke in ihren Arbeitsalltag gewährt haben.

Livia Schygulla

 

Vielen Dank an Livia Schygulla für diesen Einblick in Ihre Bachelorthesis, die sie 2024 unter der Betreuung von Prof. Dr. Jasmin Godemann und Dr. Juliane Yildiz sehr erfolgreich abgeschlossen hat! Für die Zukunft wünschen wir Ihnen alles Gute!