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Frauengesicht

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

TIII-41  

Frauengesicht, Inv. T III-41/12

Provenienz: unbekannt.

 

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite plan, im unteren Teil leicht konvex nach vorn schwingend; grob geglättet. 

 Erhaltung: Massiv. Nahezu waagerechter Abbruch oberhalb des Reifens, von dem ebenfalls ein Teil über der linken Stirnseite verloren ist. Nase schräg abgebrochen. Ausbruch im Haar links, von dort ausgehend horizontaler Riss durch die Wange bis zum Nasenflügel. Feiner Riss vertikal durch Haar und Stirn bis zur Nasenwurzel, sowie horizontal im Haar neben der rechten Wange. Verletzungen an der Unterkante und am Kinn, an der Unterlippe und der Augenbraue. Kleinere Bestoßungen im Haar.

Ton (5YR 5/3-5/6) rötlich-braun, im Kern (2,5 Y 5/2) grau, mit vielen Einschlüssen unterschiedlicher Größe, Form und Farbe. Oberfläche überwiegend hellbraun (10YR 7/4). Keine Spuren von Engobe. An der Rückseite reichlich verlaufene dunkelrote (2,5 YR 4/4) Farbe.

Maße: H: 18,1 cm; B: 16,9 cm; T: 8,1 cm

Lit.: Unpubliziert.

 

Beschreibung:

Das Stück ist auffallend schwer. Die kurze Halspartie unterhalb des Kinns schwingt leicht nach vorn und endet, indem sie sich ein wenig verjüngt, in einem flachen Bogen. Über dem schmalen Gesicht teilt sich das Haar. Bewegte Wellensträhnen, von denen sich einige zu Hakenlocken einrollen, bauschen sich in der Gegend der Schläfen und Ohren; sie reichen, unterbrochen durch eine flache Einsenkung, bis zum Kinn herunter. Ein dünner, durch eine schmale Rinne begrenzter Reif liegt nahezu waagerecht im Haar. Seitlich schließen fragmentierte Gebilde mit unregelmäßiger Oberfläche an. Die langen glatten Wangen enden in einem breiten markanten Kinn. Der Mund ist klein, die Lippen sind waagrecht geschnitten. Über den niedrigen, doch tiefen Orbitalen treten die Brauen plastisch hervor. Weit geöffnete, nach außen abwärts gerichtete Augen sind von scharfkantigen Oberlidern begrenzt, während das Unterlid fließend in die Wangenpartie übergeht.

 

Kommentar: Der reliefartige, geschmückte Frauenkopf ist mit Ausnahme des oberen Bruchs und kleinen Bestoßungen ringsum mit originalem Rand erhalten. Daraus geht hervor, dass es sich nicht um ein Statuen- oder Büsten-Fragment, sondern um den vorderen Teil eines weiblichen Kopfes (Protome) mit dem unmittelbar anschließenden  Abschnitt des Halses handelt. Wie sich die Skulptur nach oben fortsetzte, wissen wir nicht. Die seitlichen Gebilde mit unregelmäßiger Oberfläche gehören vermutlich zu einem Schleier, die kleinen glatten Elemente zu einer polosartigen Kopfbedeckung[1].

Wegen seiner Größe und seines hohen Gewichts erscheint der Gegenstand ungeeignet  für das freie Aufhängen, etwa an einem Baum im Heiligtum. Eher ist die Befestigung an einer glatten Fläche vorstellbar. Nun zeigen aber Kopfprotomen mit Büstenansatz[2], dass hier anders als beim Exemplar in Gießen nicht die Halspartie vorspringt, sondern der obere Teil der Büste, während die Halslinie im Wesentlichen vertikal verläuft.

Das Motiv des Kopfes als Hochrelief ist in der Architekturplastik Mittelitaliens geläufig[3]. Köpfe, Büsten und ganze Figuren schmücken die Stirnziegel an den Dächern etrusko-italischer Bauwerke[4]. Antefixe mit weiblichen Köpfen aus Capua[5] sind vergleichbar mit der Gießener Protome, doch sprechen deren intakter Rand und glatte Rückseite gegen eine solche Verwendung. Ein Stirnziegel ließe den Ansatz des Kalypters (Deckziegels) erkennen[6].

Auffällig an dem Gießener Exemplar ist die gleich unterhalb des Kinns nach vorn ausschwingende obere Halspartie. Möglicherweise war die Protome z. B. an einem Gesims angebracht, das sie mit ihrem unteren Teil ein wenig überragte; doch es mangelt bisher an einleuchtenden Vergleichsbeispielen[7]. Es könnte sich – nach einem Vorschlag von M. Recke, Gießen – auch um das Probestück einer Werkstatt handeln, das seinen Platz als plastischer Schmuck an einem Bauwerk noch nicht gefunden hatte.         

In motivischer und stilistischer Hinsicht ähnelt das Gesicht weiblichen Votivköpfen aus Capua[8] und Cales[9], sowohl im Umriss, dem markanten Kinn und in der Form und Position der Sinnesorgane, als auch in der Haartracht, die sich aus gescheitelten, weich zur Seite schwingenden Wellensträhnen und einzelnen Hakenlocken zusammensetzt. Am nächsten steht ihm ein Frauenkopfvotiv, Capua G II a 1[10], das mit Diadem und Polos sowie einem Schleier geschmückt ist. Mit ihm hat das Gießener Exemplar auch die Gesichtsform mit den langen glatten Wangen und dem kantigen Kinn gemeinsam. Die tief unter plastisch hervorgehobenen Brauenbögen und niederen Orbitalen liegenden Augen, die von scharf begrenzten Oberlidern und weich in die Wangen übergehenden Unterlidern eingefasst sind, weisen ebenso  wie die fest geschlossenen, doch vollen, geschwungenen Lippen, von denen die obere die untere geringfügig überschneidet, in eine Entstehungszeit gegen bzw. um die Mitte des 4. Jhs. v. Chr.[11].

 

Einordnung:Um 350 v. Chr., figürlicher Schmuck von einem Bauwerk, Kampanien (Capua).
 
TIII-41a   TIII-41b   TIII-41c


[1] Vgl. den Schmuck der Votivköpfe A VIII a 1; E I a 1 oder E V a 1 aus Capua, M. Bonghi Iovino, Terrecotte votive I (Florenz 1965) 29. 52 f.  54 f.  Taf. 3, 3. 4; Taf. 18, 3 und Taf. 19, 3.

[2] M. Barra Bagnasco, Protomi in Terracotta da Locri epizefiri (Turin 1986) 42 Nr. 37 Taf.8; F. Croissant, Les protomés féminines archaϊques (Paris 1983) 345-349 Nr. 228. 232 Taf. 137.

[3] s. z. B. aus Travertin die hellenistischen Säulen- und Pfeilerkapitelle am Podiumstempel auf der Agora von Paestum, F. Krauss – R. Herbig, Der korinthisch-dorische Tempel am Forum von Paestum (Berlin 1939) 70-77 Taf. 27 f. und 43-48; aus Tuff: RM 45, 1930, 61 Abb. 1.

[4] Oft in einem ornamentalen Rahmen, A. Andrén, Architectural Terracottas from Erusco-Italic Temples (Leipzig 1939) 34 Nr. 32 Taf. 10. S. 201 Nr. 259 Taf. 76. S. 467 f. Nr. 503. 504 Taf. 144; V. Kästner, Archaische Frauenkopfantefixe aus Capua, FuB 24, 1984, 66-74 Taf. 11-14; Antefix mit Büste, H. Koch, Dachterrakotten aus Campanien (Berlin 1912) 39 f. Taf. 7, 4; Akroter mit einfachem Rahmen ebenda 76 Abb. 85; R. A. Staccioli, Modelli di edifici etrusco-italici (Florenz 1968) 16-18 Taf. 2-4.

[5] Exemplare ohne ornamentalen Rahmen oder Reliefgrund, Koch 1912, 70-72 Abb. 79. S. 47 Taf. 14, 4 b; dazu aus Curti und Capua: P. Danner, Westgriechische Firstantefixe und Reiterkalyptere (Mainz 1996) 29 f. Taf. 12, 2. 4. 5.  

[6] Koch 1912, 7 Abb. 12  zu S. 71 Abb. 79. 

[7] Entweder handelt es sich um eher rundplastisch konzipierte Köpfe als Giebelfiguren, s. Danner 1996, 102 Taf. 15, 4; Staccioli 1968, 29 f. Taf. 20 f. oder um das Relief eines dionysischen Kopfes als Giebelapplik.  

[8] M. Bonghi Jovino, Terrecotte votive I. Capua preromana (Florenz 1965) 59 Taf. 21, 1. Die Gesichter der Votivköpfe A VII und A VIII, ebenda 28 f. Taf. 2, 4 und 3, 1, zeichnen sich durch eine weichere, in ein leichtes Doppelkinn übergehende Wangenpartie und durch geschwungene Lippen aus. Diese Tendenz setzt sich bei E I, ebenda 52 Taf. 18, 3, fort; Antefix in: Museo Provinciale di Capua, M. Bedello Tata, Botteghe artigiane a Capua, in: M. Bonghi Jovino (Hrsg.), Artigiani e botteghe nell' Italia preromana (Rom 1990) 105 Taf. 7, 1.

[9] J. M. Blasquez, Terracotas del santuario de Calés (Calvi), Campania, Zephyrus 12, 1961, 33 Abb. 15 Taf. 11; aus derselben Matrize stammt der Kopf einer weiblichen Halbfigur in Berlin, V. Kästner (Hrsg.), Etrusker in Berlin (Regensburg 2010) 70-72 Abb. 6.3.

[10] Bonghi Jovino 1965, 59 Taf. 21, 1.

[11] Vgl.  z. B. den Frauenkopf  aus Tarent, E. Langlotz, Die Kunst der Westgriechen (München 1963) 88 Abb. 132, sowie die weiblichen Köpfe auf den Grabreliefs in Tarent, Langlotz ebenda 90 f. Abb. 136 a und 137 a.