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Maske eines Flussgottes (Acheloos)

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

TI-9  

Maske eines Flussgottes (Acheloos), Inv. T I-9;

alte Inv.- Nr. 34 und 31

Provenienz: aus der Sammlung Margaritis,1899 erworben von Bruno Sauer.

 

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite hohl, grob geglättet.

Erhaltung: Stirn, Nase und Mund versintert. Defekte unterhalb der Hörner, rechts stärker ausgeprägt als links. Bestoßungen an der Nase und am Rand des Bartes. Schnittverletzung rechts vom Kinn.

Hellbrauner (7,5YR 7/3-7/4) Ton. Reichlich weiße Engobe, vor allem im Gesicht, auf den Hörnern, dem umbiegenden Tonstreifen und am Bart.

Bemalung: Bart hellbraun (7.5YR 7/5) mit dunkleren Strähnen. Über der Stirn alternierend rote und blaue Bemalung. Lebhaftes Rot am Mund; Spuren von Rot auch auf den Wangen.

Maße: H: 8,7 cm; B: 6,4 cm; T: 3,2 cm.

Lit.: D. Graen – M. Recke (Hrsg.), Herakles & Co (Gießen 2010) 158 f. Abb. 91; M. Recke – O. Schneider (Hrsg.), Erhaltenswert. Archäologische und bibliophile Schätze für die Zukunft bewahren. Eine Ausstellung der Antikensammlung und der Universitätsbibliothek Gießen (Gießen 2009) 22. 60 Abb. 13; W. Zschietzschmann, Die Antiken der Universität, Gießener Hochschulblätter 5, 1957, Abb. 3

 

Beschreibung:Kleine Hörner unterbrechen die längliche Konturlinie des bärtigen Kopfes. Das Gesicht hebt sich als weißer, auf der Spitze stehender Rhombus von Bart und Stirnhaar ab. Der Vollbart, der in einer leicht vorspringenden Rundung endet, ist in einem dunkleren (grauen) Farbton gesträhnt.  Am Ansatz, unterhalb des aufwärts geschwungenen Mundes, ist  ein bartfreies Dreieck ausgespart. Der Oberlippenbart bildet zwischen den geschlossenen Lippen und der kräftigen Nase einen in brauner Farbe aufgetragenen dünnen Bogen. Schwere, durch flache Gruben von den Orbitalen abgesetzte Oberlider lassen die weit auseinander liegenden Augäpfel  kugelig hervortreten.

 

Kommentar: Die Hörner sind ein Kennzeichen bärtiger Flussgötter (Acheloos). Zwischen Haar und Stirn, wo rote und blaue Farbspuren auf einen Kranz hinweisen könnten, ist der Übergang durch ausgeprägte Versinterung verunklärt. Als ikonographische Parallelen eignen sich zwei kampanische Antefixe (Stirnziegel), die wohl beide aus derselben Matrize stammen[1]. Mit ihrer Höhe von etwa 23-24 cm schmückten die Dachterrakotten jedoch ein größeres Bauwerk. Vergleichbar ist auch ein großgriechischer Silenskopf[2], dem zum Flussgott nur die Hörner fehlen. Er misst 6,5 cm in der Höhe und steht daher in seinen Abmessungen dem Gießener ‚Acheloos‘ näher als die Antefixe[3].

Die Protome T I-9 ähnelt den genannten Exemplaren in der Konturlinie und in der Art, wie die Gesichter von Haar und Bart eingegrenzt sind. Doch die Backenbärte der Antefixe dringen förmlich auf die Gesichter ein; daher wirken sie optisch kleiner, ein Eindruck, der durch die plastische Wiedergabe des geschwungenen Oberlippenbartes, der Brauen und Augenlider unterstrichen wird. Außerdem sind die Lippen der Stücke in Leipzig und Berlin gerade geschnitten und der Bart setzt direkt an der vollen Unterlippe an; die Mundwinkel des Silens aber sind ebenso wie die des Gießener ‚Acheloos‘ leicht angehoben. Jenem fehlt nur die bei den drei anderen Exemplaren vorhandene flache Kehlung des Orbitals, die durch eine Zäsur zwischen Oberlid und Orbital abgelöst ist.

Die Durchbohrung des hohlen oberen Randes lässt darauf schließen, dass die Protome als Weihgeschenk zum Aufhängen in einem Heiligtum vorgesehen war.

Was die landschaftliche Zuordnung angeht, so ist zu bedenken, dass die Sammlung Margaritis, zu der die ‚Maske des Acheloos‘ gehörte, vor allem aus böotischen Objekten besteht. Nur hat sich bisher unter den Terrakotten aus Böotien noch kein Beispiel gefunden, das dem Gießener Flussgott so nahe steht wie die genannten kampanischen Antefixe. S. Mollard-Besques weist auf eine interessante Parallele hin, die einen Matrizen-Transfer  Böotien – Tarent vermuten lässt[4]. Dabei handelt es sich jedoch weder um einen ‚Acheloos‘ noch um einen Silen. Das bärtige Gesicht, das von Buckellocken gerahmt ist und dessen plastisch angegebener Bart gleich unterhalb des breiten Mundes ansetzt, stellt vermutlich den Maskengott Dionysos dar[5].

Ein Kennzeichen der ‚Acheloos-Protome‘ ist das bartfreie Dreieck unterhalb des Mundes, wie es auch bei Symposiasten-Figuren aus dem spätarchaischen Tarent begegnet[6], doch macht die dunklere Tonfarbe eine Tarentiner Werkstatt als Herstellungsort des Gießener Exemplars wenig wahrscheinlich.

   

Einordnung: Ende 6./Anfang 5. Jh. v. Chr.; Kampanien (?)

 TI-9a    TI-9b


[1] V. Kästner, Drei Antefixe aus Italien. Festgabe anlässlich der Winckelmannsfeier des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Leipzig am 11. Dezember 2000, S. 3 und 5 Abb. 3 und 4; ders., Archaische Baukeramik der Westgriechen (Diss. Humboldt-Univ. Berlin 1982) 59-61 Taf. 20;  ebenso E. Paul, Antike Welt in Ton (Leipzig 1959) 103 Nr. 373 Taf. 95; H. Koch, Dachterrakotten aus Kampanien (Berlin 1912), 70 Taf. 18, 5.

[2] H. Herdejürgen, Die tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. im Antikenmuseum Basel (Mainz 1971) 37 f. Nr. 5 Taf. 1;  Koch 1912, 70  Taf. 18, 1.

[3] Kästner a. O. 2000,  5.

[4] Aus Tanagra B 98, aus Tarent B 520, Mollard-Besques 1954, 17 Taf. 12 und  Taf. 47.

[5] So auch eine weitere Parallele in Heidelberg, B. Neutsch, Die Welt der Griechen im Bilde der Originale der Heidelberger Universitätssammlung (Heidelberg 1948) 41 Nr. 17 Abb. 19.

[6] A. Bencze, Symposia Tarentina, BaBesch 85, 2010, 32 Abb. 9;  Herdejürgen 1971, 38 Nr. 9 Taf. 3. S. 77 Taf. 26 c; S. Mollard-Besques 1954, B 501. 510. 516; W. Wamser-Krasznai, Studien zu den Typen der Tarentiner Symposiasten (Diss. Justus- Liebig- Universität Gießen 2002) URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2003/1184, 146 Nr. 84 Abb. 16; 150 Nr 130 Abb. 22; W. Wamser-Krasznai, Für Götter gelagert. Studien zu Typen und Deutung Tarentiner Symposiasten (Budapest 2013). Beim thronenden Gott aus Paestum ist der Kinnbart durch einen schmalen Steg mit der Unterlippe verbunden, E. Langlotz, Die Kunst der Westgriechen (München 1963) 62 Taf. 4