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Georg Christoph Lichtenberg: Wider Physiognostik. Ein Entwurf (1778-80)
-- Textgrundlage: Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe. Dritter Band. Hg. von Wolfgang Promies. München 1972, 552-562.
-- Erfassung und 1 Korrektur: Melanie Wied, Thomas Gloning, 15.4.2001
-- Zur Einrichtung: <<562>> etc. = Seitenzahlen der Edition; <<562Fu>> = Fußnoten zur betreffenden Seite, die in der Edition am Fuß der Seite, hier aber am Ende des Dokuments stehen; zeilengetreue Wiedergabe, aber Silbentrennung aufgehoben, um die elektronische Suche nicht zu behindern; unterstrichenes kat exochen auf S. 562 im Orig. griechisch.
-- Zur Textgeschichte in aller Kürze: Die vorliegende Textgestalt geht auf Albert Leitzmann zurück, der zwei handschriftliche Entwürfe (wohl 1778, 1780) zusammenfügte, die Lichtenberg offenbar für einen zweiten Teil seiner 'Antiphysiognomik' anfertigte. Textidentische Übergangspassagen deuten darauf hin, daß Lichtenberg selbst das Zusammenfügen der beiden Entwürfe beabsichtigte (vgl. Promies im Kommentarband, S. 264f.). -- Der Entwurf gehört in den Zusammenhang der Kontroverse um Lavaters Physiognomik und die darauf folgende Physiognomik-Mode. Lichtenberg setzt sich hier mit einer Schrift auseinander, mit der sich der von Lichtenberg geschätzte Moses Mendelssohn zum Thema geäßert hatte (erschienen im Deutschen Museum, März 1778). Lichtenbergs Hauptziel ist der anonyme Verfasser einer Vorrede zu Mendelssohns Artikel (J.G. Zimmermann, ein Parteigänger Lavaters). Über die Kombination von Mendelssohns Artikel und der Vorrede schreibt Lichtenberg: "ich habe bei meiner nicht geringen Erfahrung in der Welt nur ein einziges Mal etwas Ähnliches gesehen, und das war -- -- Eine Bibel hinter einem Eulenspiegel gebunden" (554).
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WIDER PHYSIOGNOSTIK

Eine Apologie von G.C.L.

              Quid cum illis agas, qui neque Jus neque
       bonum atque aequum sciunt;
Melius, pejus, prosit, obsit, nihil vident
       nisi quod lubet.

Terentius

Nach den wiederholten, kostbaren Beweisen, welche die Physiognomen
von ihrer tiefen Menschenkenntnis bisher von Zeit zu Zeit
ihren Subskribenten haben zufließen lassen, konnten die letzteren
wohl mit Recht auch einmal für ihr Geld eine Probe von der
Menschenliebe verlangen, welche die Einweihung in ihre
Lieblings-Wissenschaft bei großen, freigebornen Seelen untrüglich befördern
soll. Auch diese ist nunmehr für die Ostermesse 1778 fertig geworden.
Sie ist simpel, zweckmäßig, und dieses Mal wohlfeil. Überdas
wird sie von einem Manne geliefert, der einer der größten Physiognomen
und folglich der größten Menschenfreunde unsers Jahrhunderts
ist, und der außerdem, um die Sache recht angenehm
machen zu können, bei einer gewissen angebornen Gabe von
gefälliger, Bostonischer Urbanität, nichts von dem besitzt, was man
hohle Festlichkeit in der Sprache, Konventions-Rhythmus unserer
Zeit, oder, mit unsern Alten zu reden, heroische expressiones
nennen könnte.

Meine Leser werden vermutlich schon jetzt merken, daß ich die
menschenfreundliche Einleitung zu einer Abhandlung über die
Harmonie zwischen Schönheit und Tugend meine, die im März des
Deutschen Museums auf den ersten Seiten befindlich ist. Die Huld
die jede Zeile derselben belebt, ist zwar an sich schon jedem fühlbar,
der nur etwas in den Segensformuln unserer kritischen Gerechten
bewandert ist; allein, um den Leser die ganze Salbung derselben erst
recht schmecken zu lassen, muß ich zu meiner Schande bekennen:
Ich habe den Mann, der der Verfasser sein soll, seit jeher auf Reisen
und zu Hause bitterlich gelästert; ich habe ihn sogar in Briefen an
ihn selbst geschmäht; wenn einfältige Leute, die, der Himmel weiß
wie?, Kredit in und außer Deutschland haben, mir ins Ohr raunten:
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Er sei doch bei allem dem ein großer Mann, so habe ich allemal mit Hitze
widersprochen, ob gleich alles so klar erwiesen war, daß ich selbst
im Herzen dachte es wäre nicht anders. Und nun bedenke man einmal
dieses Herzensmanns Verfahren gegen mich. O J'aime cette
sensibilité de coeur; J'aime ces braves Suisses sagte der König von
Preußen einmal von einem gewissen Schweizer,* und ich sage es
nach einem Irrtum von 8 Jahren auch. Allein der rechtschaffene
Mann kann auch von nun an darauf rechnen, es soll ihm Huld um
Huld widerfahren. Ich werde keine Gelegenheit vorbeilassen ihm
zu dienen, und ich ergreife daher gleich diese erste öffentlich zu
bekennen, daß ich mich geirrt habe -- Doch -- hier kommt mir der
Übergang meines Weimarschen Rezensenten** vortrefflich zu
statten: Ich habe lange genug ernsthaft geredet, es ist nun Zeit, daß
ich anfange zu spotten.

Die Erscheinung im März des Museums ist allerdings merkwürdig.
Ein philosophischer Aufsatz über die Harmonie zwischen
Schönheit, Tugend und Verstand, mit einer Einleitung, worin weder
Philosophie, noch Schönheit noch Tugend noch Verstand ist; eine
Schrift, die die simple Sprache der Wahrheits-Liebe redet, und auf
welcher deutsche Philosophie und deutsche Redlichkeit zu ruhen
scheint, mit allem dem Witz-Zwang und dem ausländischen Prunk
der sich bewußten Impotenz angekündigt; und endlich eine
Abhandlung von einem Weltweisen, der niemand in Europa über sich
hat, von einem angepriesen, der sehr wenige unter sich zu haben
scheint: dieses sind allerdings seltsame Erscheinungen hier zu Lande.
Auch muß ich bekennen, ich habe bei meiner nicht geringen
Erfahrung in der Welt nur ein einziges Mal etwas Ähnliches
gesehen, und das war -- -- Eine Bibel hinter einen Eulenspiegel
gebunden.

Wenn mir jemand Fehler aufrückt, die ich verbessern kann, und
nicht will, und er züchtigt mich sogar, wenn er Witz hat; gut, so bin
ich zufrieden; ich will ihn wieder züchtigen, wenn ich Witz habe
und er Fehler die er verbessern kann und nicht will. Satyre muß sich
jeder gefallen lassen, und der am ersten der selbst welche schreibt.

Das sind Kleinigkeiten. Ich denke mit Churchill:

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Tho' pointed at myself be satire free,
To her 'tis pleasure and no pain to me.

Allein ums Himmels willen habt Witz, Ihr die ihr dieses gefährliche
Lehramt antretten wollt, und nehmt hier ein Exempel an eben
erwähntem Eulenspiegel, wie verzwickt es läßt seinen Gegner benässen
wollen wenn -- -- -- wenn man nicht kann.

Wie aber, wenn uns ein Mann Fehler aufrückt und zur Last legt,
die wir nicht verbessern können, wie da? O gegen den ist selbst
Göbhard ein Engel; und wäre ich ein Engel gegen Swift und Horaz,
so müßte es aus alter Bekanntschaft geschehen, oder ich würdigte
ihn nicht einmal der Ehre ihn unter die Sterne aufzuknüpfen. Doch
nun näher zur Sache.

Es hätte freilich nach dem Beifall, welchen die kleine Antiphysiognomik
im Göttingischen Taschen-Kalender erhalten hat, ein Anfall,
wie der in eben erwähnter Einleitung, dem Verfasser nicht ganz
unerwartet sein sollen. Er kannte die Sitten einiger seiner erhabenen
Gegner und ihre Schwachheiten lange ehe sie sich durch gedruckte
Offenbarungen selbst der minder prüfenden Klasse von Menschen
auf diese Art enthüllt haben. Unpolierten Tadel konnte er von denen,
deren Lob selbst unpoliert ist, desto sicherer erwarten, je weniger er
selbst die Kunst verstund die Fackel der Wahrheit durch ein solches
Gedränge zu tragen ohne irgend ein Kopfzeug oder einen angesetzten
Bart zu versengen. Allein dem ohngeachtet, muß er bekennen, fand
er sich doch am Ende in der Hauptsache betrogen. Denn was er,
aus wichtigen Gründen, allein erwarten zu müssen glaubte, waren
prächtige Machtsprüche des blinden sich gekränkt glaubenden
Hochmuts, ungesittete Ausbrüche verzweifelnder Mäklerei, und
höchstens, was Physiognomik anging, die alte Aussichten wieder
durch neue Löcher. Statt dessen aber sah er mit lächelndem Erstaunen
ein hohes selbstständiges Wesen, einen physiognomischen
Welt-Erlöser, der auf einen Angriff wie der seinige höchstens als auf
einen kleinen Zusatz zu seiner irdischen Leidens-Geschichte mit
erhabner Ruhe hätte herabsehen sollen, würklich und im Ernst
beschäftigt und genötigt, sich deutliche Begriffe von Berlin zu
verschreiben -- um ein Paar Kalender-Blättchen zu widerlegen.

Ich sage dieses gar nicht um jenes Verfahren zu tadeln. Das sei
ferne von mir. Ich lobe es gegenteils als sehr weise und der Beförderung
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von Menschenliebe und Menschenkenntnis höchst zuträglich. Daß man
von fremdem Boden holen kann, was der unsrige nicht trägt, ist ein
Haupt-Vorteil des gesellschaftlichen Lebens, nur mögte ich wünschen,
jener Kommerz-Traktat wäre um einige Jahre früher
geschlossen worden.

Der Plan war übrigens im Ganzen nicht schlecht angelegt.
Mendelssohns Name (denn der ist der Verfasser jenes Aufsatzes) hat
bei den prächtigen Nichtdenkern unserer Zeit eben so viel Gewicht,
als des verehrungswürdigen Mannes Schlüsse bei Denkern haben,
und bei Denkern und Nichtdenkern zu verlieren, das heißt unstreitig
bei der ganzen gelehrten Welt verlieren. Ich also, der höchstens ein
bißgen Namen gewinnen kann, mit Personen im Streit die teils des
ihrigen gewiß sind, teils für ihr Bißgen bis aufs Blut fechten würden,
das ist freilich eine traurige Aussicht, bei Eröffnung eines Feldzugs.
Und ein solches Treffen war es grade, was mein heißatmender Gegner
wünschte, eines bei welchem mich selbst der Sieg zu Grunde richten
mußte. Ob die Wahrheit darunter gewann oder nicht, ist wohl
solchen Philosophen gleichgültig. Auch muß ich bekennen, man
suchte mir mein Leiden erträglich zu machen; weil nämlich ein sehr
erleuchteter Teil des deutschen Publikums mehr nach Namen, als
Sachen richtet, so hielt man aus alter Bekantschaft Mendelssohns
Namen äußerst geheim. Denn da man in Deutschland die Verfasser
anonymischer Aufsätze gemeiniglich schon kennt, ehe sie geschrieben
sind, so konnte ich, daß Mendelssohn der Verfasser eines Aufsatzes
wider mich im Museum sein würde, mit gnauer Not kaum
vier Wochen vorher erfahren ehe er gedruckt ward.

Hier könnte ich fragen: war es billig eine Abhandlung die für ein
Taschenbüchelchen geschrieben war, das man nach einem Viertel-Jahr
gemeiniglich wegwirft, einer Prüfung zu unterwerfen, die eigentlich
nur für jene festlichen Kompilationen unserer Prächtigen gehört, in
welchen einem die gewagten Gedanken und die neuen Entdeckungen
um den Kopf schwärmen, daß man nicht weiß wo er einem
endlich mehr steht? Allein ich verachte dieses Argument, und setze
nur dieses hinzu: hätte der, der so sehr gegen die kleine Schrift tobt,
sie unter meinen Umständen, an meiner Stelle für ein solches Büchelchen
geschrieben, so wäre sie gewiß prächtiger und gewiß seichter
geworden. Es ist viel gesagt, aber es kommt auf eine Probe an.

Indessen, ich weiß nicht, ich fürchtete Mendelssohns Abhandlung
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schlechterdings nicht. Ich kenne des vortrefflichen Mannes
philosophische Unparteilichkeit, und seine von aller gelehrten
Stockjobberei entfernte Wahrheitsliebe. Ich habe sie lange gekannt und
eben deswegen schon 1772 bei dem berüchtigen Bekehrungswerk
gewünscht, wo nicht der Jude, doch der kluge, ruhige, stille
Denker mögte der Bekehrer sein. Und mein Gott, warum hätte ich
den Mann fürchten sollen? Den Profit für meine Physiognomik
hatte ich einmal bar in der Tasche, das Lob des größten Philosophen
hätte mich um keinen Pfennig reicher und sein Tadel um keinen
ärmer gemacht. Alles was ich also von seiner Schrift insofern sie
schnurstracks wider mich gewesen wäre im schlimmsten Fall
erwarten konnte, war Überführung eines Irrtums, und wahrlich,
wenn dieses für den, der von Grund des Herzens zu lernen wünscht,
kein Vorteil ist, was ist Vorteil? O ich weiche einem gründlichen
Argument sehr gerne (was hülfe es auch wenn ich nicht gerne wiche?
ich könnte gar den Hals über dem Mutwillen brechen) und ferne sei
es von mir je in der Welt einen Mann mit Bitterkeit zu behandeln
der meine Vernunft belehrt. Ja ich würde sogar schweigen, wenn er
mich mit Bitterkeit belehrte. Bitterkeit ist nur gegen Stammbetrüger,
oder eingebildete betrogene Betrüger, gegen stolze Plauder-
und stolze Polter-Köpfe, oder gegen Leute gut angebracht, die einen
dreimal wiederholten Beweis für einen dreifachen halten, und ihre
Irrtümer immer weniger fühlen je öfter sie sie begehen, zumal wenn
sie von der Art sind, daß sie zwar Huld mit Huld erwidern, aber was
die Sache betrifft ruhig fortfahren. Ich habe dem Himmel sei Dank
gelernt mich über das temporelle Gegickel und Geflüster derer
wegzusetzen, die keine Meinung über irgend etwas haben und daher
auch das Vergnügen belehrt und in sich selbst sicherer zu werden
nicht schmecken können. Überhaupt denke ich, was unser einem in
der Welt gefährlich ist, sind nicht sowohl die langen Arme der
Großen als die verhenkerten kurzen der interessierten Kammerdiener.
Ich erwartete also in aller Ruhe eines Lehrbegierigen was
Herr Mendelssohn sagen würde.

Als ich endlich die Philosophische Abhandlung selbst las, wie groß
war nicht meine Freude, meine Meinung mit der des vortrefflichen
Mannes nach einigen gemachten Einschränkungen völlig zusammentreffen
zu sehen, hingegen wie groß mein Erstaunen über den
Einleiter, der sie, vermutlich ohne sie durchgedacht und mit der
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meinigen ernstlich verglichen zu haben, oder welches mir
wahrscheinlicher ist ohne beide zu verstehen, dem Publikum als eine
Widerlegung von mir aufhängen will. Sie ist so wenig eine Widerlegung
von meinen Sätzen, daß sogar wenn ich die vortreffliche
logische Ordnung der Sätze, die gnauere Unterscheidung der
Begriffe und deren Bezeichnung mit neuen Namen ausnehme, die ich
nicht hätte unternehmen dürfen, ohne daß Dietrichen 3000 Kalender
liegen geblieben wären, so steht in Herrn Mendelssohns Abhandlung
wenig, was ich nicht schon selbst gesagt hätte. Warum sagt der
sinnreiche Einleiter dann nicht lieber gleich, ich habe meine
Abhandlung durch meine Kupferstiche widerlegt? Ich selbst lasse die
Tugend schön, das Laster häßlich zeichnen. Ich sage mit Herrn Mendelssohns
Worten: die Tugend macht schöner und das Laster häßlicher,
ich
sage, wüchsen unsere Körper in reiner Himmels-Luft, durch keine
äußere Kräfte gestört, so würden Tugend und Talent ihre untrüglichen
Zeichen haben, vielleicht nennten wir auch alsdann jene
Zeichen schön, und nun tritt ein Mann auf und sagt, und dieses noch
dazu in Ausdrücken und Anspielungen, deren Billigkeit ich auf
seinem Gewissen lassen will, ich leugne alle Harmonie zwischen
Schönheit und Tugend. Was diesen ungereizten Gegner hierzu
bewogen haben kann, will ich wenigstens jetzt nicht untersuchen. Wo
sich Leute so weit vergehen, da findet die bitterste Satyre ihr Werk
schon getan. Ich wende mich vielmehr zu Dir, teuerster Mendelssohn,
zum Heiligtum der Philosophie, ohne mich um die polternde
aber längst unschädliche Hellebarte des Trabanten zu bekümmern,
der sich so ungeschickt als ungebeten vor die Tür gepflanzt hat.

Doch muß ich vorher einige Anmerkungen machen. Die Absicht
meiner Schrift war nicht Herrn Lavater in allen Stücken zu widerlegen,
sondern nur dem Heuschrecken-Heer von Physiognostikern
zu steuren, das durch seine Wärme ausgebrütet jetzt unsere Gesellschaften
schändet; sie war nicht, zu erweisen, daß man gar nicht aus
den Gesichtern urteilen könne, sondern daß diese Urteile äußerst
trüglich seien; sie war, Mißtrauen und Behutsamkeit gegen Herrn
Lavaters Schriften bei Leuten zu erwecken, die was er Wahres hat
nicht mehr von seinen Irrtümern unterscheiden konnten, und die,
weil er ein rechtschaffener Mann ist, gleich glaubten, er sei ein
untrüglicher Mann. Wenn Herr Lavater sagt*: Es sei ein fast gotteslästerlicher
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Gedanke zu glauben, daß Gott das was ihm am liebsten, und an
sich selbst das Liebenswürdigste ist, (die Tugend) gleichsam mit dem Siegel
seines Mißfallens stempeln könne,
so wollte ich zu verstehen geben, es
sei ein fast gotteslästerlicher Gedanke sich auf diese Art zum Richter
des Unbegreiflichen aufzuwerfen, und daß, wenn ich je glauben
könnte, daß Gott seine Werke mit dem Zeichen seines Mißfallens
stempelte, so müßte es der Verstand desjenigen sein, der so etwas
ohne Einschränkung behaupten könnte. Ich sage dieses nicht gegen
Herrn Lavatern selbst. Ich weiß, er glaubt es nicht, oder weiß sich mit
seiner Unterscheidung zwischen häßlicher und leidender Tugend
zu helfen. Allein er muß bedenken, sein Werk ist weitläuftig, seine
Ordnung entschuldigt der Titul. Mörder haben die Bibel zitiert,
wieviel eher können alberne superfizielle Menschenfeinde seine
Physiognomik zitieren. Schon im Jahr 1778 findet sich ein Unterschied
zwischen Lavatern und Physiognostikern, der größer ist als
der zwischen Paulus und einem Groß-Inquisitor. Meine flüchtige
Schrift, von welcher ich mich als ich sie schrieb geschämt hätte zu
denken, daß sie nur die Hälfte des Aufsehens machen würde, das sie
gemacht, hat es einzig der Verbitterung beider Parteien zu danken,
an der ich unschuldig bin. Lavaters Feinde schrien, da habt ihrs nun
endlich, und seine Freunde, zumal die Polter-Köpfe die schlechterdings
nichts mit Kälte prüfen können, glaubten, sie hättens nun
würklich, und fingen deswegen an alles so bitter zu widersprechen,
als -- wenn sie's im Herzen glaubten.

Es ist mir leid, daß ich sagen muß, daß Herr Lavater der mein
Kalender-Blättchen im 4ten Teil seiner Physiognomik einer Antwort
von 38 Seiten in groß 4to mit Kupfern gewürdigt hat in denselben
Fehler verfallen ist. Mit dieser Idee im Kopf konnte es ihm
freilich nicht fehlen, er mußte Widersprüche in jeder Zeile finden.
Was kann Ich dazu, daß seichte Prüfer glauben wenn etwas über eine
Sache herauskommt, so muß es entweder pro oder contra sein, und
daß es kein Mittel gebe zu zeigen, daß sich beide irren. Ist das meine
Schuld? Mein Gott! Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen
und es klingt hohl, ist das allemal im Buch? Ich erkläre mich noch
einmal, hier und da läßt es sich physiognomisieren, wie hier und da
prophetisieren, der eine mehr der andere weniger. Im ganzen und in
Millionen Fällen gegen einen ist alles ein Nichts und Physiognomik
eine Prophetik. Ich werde noch einige Zeit fortfahren in dem nächsten
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Stücke meiner Schrift dieses nach Kräften zu zeigen, ich sage einige
Zeit,
und wenn sie es alsdann nicht glauben wollen, gut, so sollen sie
es, nach dem 10ten Quartanten, selbst finden.

Nun erlauben Sie mir, teurer Mann, einige Anmerkungen über
Ihre Sätze zu machen, bloß ihren Zusammenhang mit den meinigen
zu zeigen. Sie sagen S. 195 "Die organische Schönheit steht sehr oft
mit der leblosen Schönheit in Harmonie -- -- Sie sind aber sehr oft in
Kollisionsfällen genötigt" pp. Allein was ist sehr oft? Zwei ist mehr
als eins und eine Million auch. Ferner bei der tierischen Schönheit
sind die Kollisions-Fälle noch häufiger, also schon häufiger als sehr oft,
und endlich beim Menschen sind sie noch desto häufiger, als bei der
bloß tierischen Schönheit, folglich schon häufiger als häufiger als sehr
oft.
Das ist es eben was ich sage, und doch betrachten die Physiognomen
diese Kollisionen nicht als Kollisionen, sondern nach den
Regeln einer unleugbaren Pathognomik bringen sie alle ersteren
Erscheinungen irgend unter eine Regel der letzteren. Sie geben jedem
Zug, der nicht mit dem Pallasch gezeichnet ist, auf irgend eine
Weise eine Bedeutung von innerer Anlage, und müssen das tun so
lang sie bestehn wollen. Ich wollte ja nicht a priori bestimmen was
Menschen sein könnten, ich wollte nicht Menschen schaffen, sondern
die geschaffenen beobachten. Daß der Mensch lebloser, organischer,
tierischer und eines Ausdrucks von Seelen-Schönheit, wie Sie
vortrefflich unterscheiden, fähig ist, ist klar, sobald man annimmt, daß
er aus Ingredienzien besteht, die einzeln jener Schönheit fähig sind.
Auch muß der vollkommenste Mensch alle jene Schönheiten alsdann
besitzen, weil er sonst nicht der vollkommenste wäre. Allein
hier eröffnet sich auf einmal ein entsetzliches Leere in der Anthropologie,
welches auszufüllen vielleicht der Mensch nicht einmal
Vollmacht von der Natur hat. Nämlich inwiefern steht leblose
Schönheit mit der tierischen, und leblose, organische und tierische
mit Schönheit der Seele in Verbindung? Daß irgend eine Verbindung
zwischen ihnen ist, leugne ich nicht, oder will es wenigstens
nicht leugnen, so lang diese Abhandlung selbst einigen Einfluß auf
den Amerikanischen Krieg hat. Könnte nicht, um bloß ein Exempel
zu geben, die organische Schönheit Gesundheit und die tierische
Stärke Behendigkeit usw. bedeuten? Ich leugne nicht, daß jede dieser
vier Schönheiten sich allen vieren wiederum mitteile, aber in welchem
Grad, und nach welchen Verhältnissen? Mit dem bloßen sehr
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oft kommen wir hier nicht aus. Die Frage ist wie weit kann die eine
abnehmen, bis die andere merklich leidet? Kann nicht, allen
wechselseitigen Einfluß zugegeben, die leblose, tierische und organische
Schönheit sich um 1000 verändern, wenn die der Seele um 1
abnimmt? Ich sollte dieses denken, da man einem Arme und Beine,
Nase und Ohren abschneiden, wodurch die leblose und organische
Schönheit nicht wenig leiden, und eine geringe Verletzung des
Rückenmarks alle Glieder lähmen kann, ohne die Seele in ihren
übrigen Verrichtungen zu stören. Auch hat die Natur in Bildung der
Menschen zu unserer Belehrung solche Schritte getan, daß ich, der
ich bloß für den Gebrauch schrieb ohne mich um das Spinnengewebe
der Theorie zu bekümmern, allemal im Jahr 1778 sagen
konnte, leblose organische und tierische Schönheit in der Oberfläche
hat nichts mit Schönheit der Seele zu tun. Der abstrakte
Geometer kann immer Ludolf van Ceulens Verhältnis zwischen
Diameter und Umfang des Zirkels für wichtig halten, dem Arbeiter
ist meistens die von 100 zu 314 hinreichend. Ich sagte: Leute nehmen
diesen Louisdor nicht, er taugt nicht, und Herr Mendelssohn sagt,
Ihr Scheidekünstler, 2 Taler könnt ihr dafür geben, denn es ist so
viel Gold, so viel Silber und so viel Kupfer darin. Die Menge wird,
so lange die Welt steht, das für schön halten, was ihr gefällt. Was
hätte mir alle Scheidung der Begriffe geholfen, wenn jedes Mädchen,
die einen Husar-Offizier nicht von einem Engel und einen
Sokrates nicht von einem Teufel unterscheiden kann, die Ingredienzien
in der nächsten Minute beim Gebrauch in der Haushaltung
wieder zusammengeschüttet hätte? Daß ich unter der Schönheit S. 7
des Kalenders die leblose und organische verstanden habe, hingegen
unter der S. 15 die Ausdrucks-Schönheit verstanden wissen wollte,
wird jedem einfallen, der nicht aus mikroskopischer Beobachtung
einer einzigen Periode oder gar eines Ausdrucks die ganze Richtung
der Abhandlung erklären will, sondern der aus der Beobachtung des
Ganzen die Tendenz der einzelnen Perioden erwägt und einzelne
Ausdrücke entschuldigt. Neue Namen diesen Schönheiten beizulegen,
fiel mir an einem Ort, der so weit vom Katheder entfernt ist,
nicht ein. Ferner ist nicht zu leugnen, daß ich eben so, wie man
Harmonie zwischen Schönheit und Tugend erweiset, auch Harmonie
zwischen Tugend und einer guten Lunge erweisen könnte, indem
ein vollkommener Mensch ohne diese nicht gedacht werden kann.
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Nicht Krankheit allein, sondern Kränklichkeit, die sich auf Mangel
an organischer Vollkommenheit gründet, in vielen Fällen die Oberfläche
erreicht und zu Mangel an Schönheit wird, diese ist sage ich
nur allzu oft das Los der Tugend. Hatte ich deswegen Unrecht,
wenn ich so gradeweg fragte: Was hat Schönheit des Leibes (leblose,
organische, tierische) mit Schönheit der Seele zu tun? War es
seltsamer als wenn ich gefragt, was hat Gesundheit des Leibes mit
Schönheit der Seele zu tun? Daß Tugend Ausdrucks-Schönheit bewürken
kann leugne ich nicht, ja nicht allein dies, sondern ich sage es selbst,
und auch das nicht bloß schlechtweg, sondern ich habe es mit
Schwabacher drucken lassen.* Und was soll ich sagen, wenn selbst
Du, rechtschaffener Mann, an Gesundheit und Leibesstärke von dem
Einleiter zu Deiner Abhandlung übertroffen wirst, der Dir so weit
nachsteht und mich, seinen ehmaligen Bekannten, nicht etwa mit
Satyre, sondern mit Bostonischer Urbanität behandelt? Nicht mich
zu überzeugen, welches er sich nicht getraute zu tun, sondern bloß
um mir zu schaden oder mich lächerlich zu machen, welches er
nicht konnte.

Es gibt Städte in Deutschland und Familien in allen Städten, wo
man alle vom Gewitter Getroffenen für Bösewichter, und den
Schlagfluß, wo ich nicht irre, kat exochen die Hand Gottes nennt,
und das sind grade die, in denen wenigstens einige Kapitel des Herrn
Lavater zur Würde des Thomas a Kempis, Habermann und
Kuhbach erhoben worden sind.


<<554Fu>>

* Schreiben des Herrn Leibmedicus Z. in H. an einen seiner Freunde.
1773. S. 13.

** Merkur. November 1777. S. 117.

<<558Fu>>

* Physiognomik Tom. I. p. 58.

<<562Fu>>

* Kalender S. 15. Zweite Auflage S. 62.



tgl, 15.4.2001