Hintergrundinformationen zur Studie
Ein Team aus Politikwissenschaftler*innen der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Universität Wien und der Donau-Universität Krems haben seit 2015 mehrere Studien zum Wahlverhalten von LGBTIQ* realisiert. Das Akronym LGBTIQ* steht in dem Kontext des Projekts für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, intersexuell und queer*. Sexuelle und/oder romantische Orientierungen sollten nicht mit Geschlechtsidentitäten verwechselt oder gleichgesetzt werden, da sie als etwas Eigenständiges betrachtet werden.
Zur Bundestagswahl 2021 liegt nun eine neue LGBTIQ*-Wahlstudie vor, die Politikwissenschaftler*innen der Justus-Liebig-Universität Gießen in Kooperation mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) durchgeführt haben. Die parteiunabhängige Studie wurde ohne finanzielle Unterstützung von Dritten realisiert.
In Deutschland sind schätzungsweise zwischen 1,8 und 3 Mio. der Wahlberechtigten LGBTIQ*. Die LGBTIQ*-Wahlstudien sind insofern aus politischen und wissenschaftlichen Gründen sehr wichtig – geht es doch darum, die Sichtbarkeit von LGBTIQ* und deren politischen Interessen zu erhöhen, Vorurteile abzubauen und dazu beizutragen, dass LGBTIQ* in Wissenschaft und Politik angemessen repräsentiert werden. Die detaillierten Ergebnisse der Wahlstudien werden online veröffentlicht und können so in der LGBTIQ*-Community, in Parteien und NGOs sowie in der Wissenschaft weiterführende Diskussionen anregen.
Aus methodologischer Sicht stellen LGBTIQ* dabei eine sogenannte Spezialpopulation dar, zu deren Verteilung in der Grundgesamtheit der deutschen Wahlbevölkerung aus nachvollziehbaren Gründen keine genauen Kennwerte vorliegen. In gängigen Wahlumfragen werden in der Regel keine Daten zur geschlechtlichen Identität (Gender) oder zur sexuellen Orientierung erhoben. Selbst wenn diese Fragen im Interesse einer Sichtbarmachung gesellschaftlicher Vielfalt wünschenswert wären, würden die Fallzahlen gängiger Umfragen nicht ausreichen, um valide empirische Aussagen über politische Einstellungen und Präferenzen von LGBTIQ*-Wähler*innen zu machen: Bei der üblichen Fallzahl von rund 1.000 Befragten pro Umfrage würden potenziell Daten von ca. 50 bis 80 LGBTIQ*-Personen erfasst. Diese Fallzahlen wären eindeutig zu gering, um Differenzierungen vorzunehmen und valide Aussagen etwa zu Wähler*innen-Profilen zu machen.
Die LGBTIQ*-Wahlstudien hingegen fokussieren auf die Spezialpopulation der LGBTIQ* und erreichen sie mit einem Zufallsverfahren. Dabei handelt es sich um ein so genanntes selbstselektives Sample – wer Lust hatte, konnte an der Studie mitmachen und den über das Internet, soziale Netzwerke und Multiplikatoren verbreiteten Online-Fragebogen ausfüllen.
So beteiligten sich an der ersten bundesweiten LGBTIQ*-Wahlstudie zu einer Bundestagswahl im Jahr 2017 bereits über 8.000 Personen; 2021 sogar über 9.000 Personen. Ein Teil dieser Personen hat den Fragebogen lediglich neugierig durchgeklickt, auf viele Fragen jedoch nicht geantwortet. So wurden mitunter auch die für die Analyse entscheidenden Fragen nach der sexuellen Orientierung und/oder der Parteipräferenz nicht beantwortet.
In die Analyse der LGBTIQ*-Wahlstudie zur Bundestagswahl 2021 gingen letztlich jene 5.149 Personen ein, die einerseits als deutsche Staatsbürger*innen wahlberechtigt, andererseits nicht ausschließlich heterosexuell sind. Mit dieser Befragungsmethode können solide empirische Angaben zu den Einstellungen, Interessen und Präferenzen der LGBTIQ*-Community in Deutschland gemacht werden. Die beiden vorliegenden Studien zur Bundestagswahl 2017 und 2021 sind im internationalen Vergleich die LGBTIQ*-Wahlstudie mit dem bislang größten Sample weltweit.
Diese Methode ist allerdings nicht geeignet, um eine inferenzstatistische Wahlprognose zu berechnen: Die Voraussetzung für die Durchführung einer repräsentativen Umfrage ist, dass Daten über die Grundgesamtheit verfügbar sind. Diese Voraussetzung ist in Bezug auf LGBTIQ*-Personen jedoch nicht gegeben – es ist schlichtweg nicht bekannt, wie viele LGBTIQ*-Personen in Deutschland tatsächlich leben und welche sozioökonomischen Merkmale wie etwa Alter, Familienstand, Beruf, Bildungsstand etc. sie aufweisen.
Der Online-Fragebogen der LGBTIQ*-Wahlstudie zur Bundestagswahl 2021 bestand aus 26 Fragebatterien und war vom 15. Juli bis zum 15. August 2021 auf den Servern der Universität Gießen online ausfüllbar.
Starke Veränderungen in der Parteipräferenz
Die Ergebnisse zeigen, dass LGBTIQ*-Wähler*innen eine klare Präferenz für Bündnis90/Die Grünen haben. Über die Hälfte der Befragten (52,6%) wollen ihre Stimme bei der anstehenden Bundestagswahl den Grünen geben. Auch Die Linke kann erfolgreich 17,4% der befragten LGBTIQ* überzeugen. Insofern liegen diese Zustimmungswerte weit über den aktuellen Zustimmungswerten dieser beiden Parteien, wie sie konventionelle Wahlumfragen unter den allgemeinen Wahlberechtigten in Deutschland gegenwärtig erheben. LGBTIQ* gehören für Bündnis90/Die Grünen und Die Linke bei der Bundestagswahl 2021 offenbar zu der stabilen Wähler*innenbasis. Abseits der im Bundestag repräsentierten Parteien äußerten nicht wenige der befragten LGBTIQ*-Wähler*innen eine Präferenz für kleinere Parteien für die paneuropäische Partei VOLT, die Piratenpartei, die Satire-Partei DIE PARTEI sowie die Partei der Humanisten.
Auffällig sind in diesem Kontext auch die starken Veränderungen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl. Im Vergleich zu den Daten der LGBTIQ*-Wahlstudie 2017 ist die Zustimmung für die Grünen demnach um 23% gestiegen. Die Zustimmungswerte für die CDU/CSU (2017: 6,9%; 2021: 3,2%) und SPD (2017: 21,2%; 2021: 9,1%) sind bei ohnehin niedrigem Niveau im Vergleich zu 2017 nicht einmal mehr halb so hoch. Diese Entwicklung bestätigt sich auch innerhalb des Datensatzes der diesjährigen LGBTIQ*-Wahlstudie, wo retrospektiv ebenfalls nach der Wahlentscheidung bei der letzten Bundestagswahl 2017 gefragt wurde. Die Regierungspolitik der vergangenen Legislaturperiode hat bei LGBTIQ*-Wähler*innen scheinbar Spuren hinterlassen. Dazu dürften unter anderem die jüngsten Abstimmungen im Bundestag zum Transsexuellengesetz und zur Blutspende mit beigetragen haben: So finden etwa 82,8% der befragten SPD-Wähler*innen die Tatsache, dass die von ihnen präferierte Partei im Bundestag die Aufhebung des Transsexuellengesetzes abgelehnt hat, nicht richtig. Von ihrem Engagement für Transsexuelle haben Bündnis90/Die Grünen mit ihrer Bundestagsinitiative hingegen profitiert: „Ich wähle die Grünen wegen dem Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz und damit das Abschaffen des menschenverachtenden Transsexuellengesetzes“, schreibt etwa ein*e Teilnehmer*in der Studie in einem der insgesamt 18 Freifelder des Online-Fragebogens.
Regionale Unterschiede spielen bei der Parteipräferenz von LGBTIQ* für die meisten Parteien eine nachgeordnete Rolle. Die Stimmenanteile für SPD, FDP, CDU/CSU und AfD sind in Ost und West sehr ähnlich. Bei Die Linke und Bündnis90/Die Grünen gibt es freilich Unterschiede: Während die Stimmenanteile für die Grünen im Westen höher sind (West: 54,6%; Ost: 44,9), sind sie im Osten für Die Linke höher (Ost: 24,8%; West 15,4%).
Die Volatilität (Schwankungen im Wahlverhalten im Zeitvergleich) ist insgesamt sehr hoch. Nur ein Teil der befragten LGBTIQ*-Wähler*innen möchte bei der Bundestagswahl 2021 dieselbe Partei wählen wie 2017. Bei der SPD (65,8%) und der AfD (62,1%) ist der Anteil dieser treuen Wähler*innen noch am höchsten. Die SPD hat jedoch 15,3% ihrer Wähler*innen von 2017 jetzt an die Grünen verloren. Bei den anderen Parteien ist die stabile Parteibindung der LGBTIQ* noch schwächer ausgeprägt (CDU 58,4%; Linke 56,2%; Grüne 55% und FDP 51,5%).
Insgesamt betrachtet gibt es also bei der Parteipräferenz der LGBTIQ* viel Bewegung. Die Zustimmungswerte für die einzelnen Parteien haben sich verändert. Und den Parteien gelingt es nur in bescheidenem Umfang, LGBTIQ*-Wählerinnen dauerhaft an sich zu binden.
Unterschiede in Bezug auf die sexuelle Orientierung
Die größte Teilgruppe der befragten LGBTIQ* in der Studie stellt die der schwulen Männer dar. Hier zeigt sich, dass Schwule im Vergleich zur gesamten Stichprobe, aber insbesondere auch im Vergleich zu Lesben, eine größere Präferenz für FDP und SPD, aber auch für CDU/CSU und AfD haben (wenn auch auf niedrigem Niveau). Während beispielsweise nur 2,4% der befragten Lesben bei der anstehenden Bundestagswahl die FDP wählen möchten, sind es unter den Schwulen 11,2%. Bei den Lesben ist die Präferenz für Die Linke (16,2%) indes etwas weniger stark ausgeprägt als im Durchschnitt der Studie; auch davon profitieren Bündnis90/Die Grünen (63,3%).
Im Vergleich zum Durchschnitt aller Studienteilnehmer*innen haben Asexuelle, Pansexuelle und ihre sexuelle Orientierung anderweitig als „queer“ bezeichnende Studienteilnehmer*innen eine stärkere Präferenz für Bündnis90/Die Grünen und Die Linke. Die befragten Bisexuellen präferieren die FDP etwas mehr (7,3%) und Bündnis90/Die Grünen etwas weniger (47,9%) als der Studiendurchschnitt.
Leider haben sich an der LGBTIQ*-Wahlstudie zur Bundestagswahl nur 58 wahlberechtigte Trans*personen beteiligt, sodass die Angaben dieser Teilgruppe nicht tiefergehend ausgewertet werden können. Der Trend der Parteipräferenz für Bündnis90/Die Grünen und Die Linke zeigt sich allerdings auch für diesen Personenkreis.
Wähler*innen einzelner Parteien
Im Online-Fragebogen der LGBTIQ*-Wahlstudie hatten die Teilnehmer*innen Gelegenheit, ihre Parteipräferenz mit eigenen Worten zu begründen. Viele begründen hier ihre Wahlentscheidung damit, dass sie sich für das „geringere Übel“ entscheiden oder aber eine bestimmte Partei aus strategischen Gründen wählen. Es handelt sich also oft um eine Art Negativauswahl – gewählt wird, was am Ende der Ablehnungen übrigbleibt. Im Vergleich der konkurrierenden Parteien fällt auf, dass der Frauenanteil bei den Grünen-Wähler*innen am höchsten ist. Damit unterscheidet sich das Wähler*innenprofil der Grünen markant von jenem der FDP und der AfD, die mit 85,9% bzw. 84,5% eine starke Männerdominanz aufweisen. Der Anteil der Studierenden ist bei Die Linke und den Grünen überdurchschnittlich hoch. Bei den Wähler*innen der Union sind hingegen die hohen Anteil der Wähler*innen mit einer kirchlichen Bindung (53,1%) auffällig, ebenso wie der Anteil der verheiraten Wählerinnen (33,5%).
LGBTIQ*-Wähler*innen von Parteien, die bislang nicht im Bundestag vertreten sind, sind überwiegend Angestellte (38,9%) oder Studierende (23,8%) und beurteilen ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlechter als der Durchschnitt der Befragten. Viele dieser befragten LGBTIQ* sind in Bezug auf ihre Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl noch unentschlossen, möchten sich noch weiter informieren und/oder die weitere Entwicklung abwarten, um eine strategische Wahlentscheidung zu treffen. Mitunter zeigen sie sich auch resigniert von den etablierten Parteien: Ein*e Studienteilnehmer*in schreibt: „Eventuell eine Kleinpartei, ich befürchte als Trans Person steht wohl keine Partei für meine Rechte ein“; ein*e andere*r: „Aktuell ist für mich keine der großen Parteien wählbar, da insbesondere LGBTIQ*-Themen kleingeredet werden oder die Parteien widersprüchliche Signale aussenden, die letztendlich wieder deutlich machen, das LGBTIQ*-Themen als unwichtig erachtet werden.“
Perspektiven für die Forschung
Mit diesem innovativen Projekt wird ein Teil der Gesellschaft untersucht, der in den konventionellen Wahlstudien bislang unter den Tisch fällt: Die LGBTIQ*-Community. Die LGBTIQ*-Wahlstudie gibt insofern neue Impulse für politische Debatten und natürlich auch für die Politikwissenschaft. Für die vorliegende Präsentation konnte kurzfristig nur ein kleiner Teil der vorliegenden Daten ausgewertet werden. Was bislang etwa fehlt, sind die Analysen zu politischen Einstellungen und zum gesellschaftspolitischen Engagement. Das beteiligte Forscher*innen-Team arbeitet weiter an diesem Projekt und wird die Ergebnisse weiter veröffentlichen.
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