Michael Tewes, 47, Professor für deutsche Sprachwissenschaft
Was darf in keinem guten Leben fehlen?
Freude und Freunde
Im Film Being John Malkovich findet der Protagonist zufällig einen geheimen Eingang zum Kopf des Schauspielers John Malkovich. In wessen Kopf wären Sie gern mal für einen Tag?
Ich wäre nicht gerne im Kopf eines anderen Menschen. Aber einen Tag lang nur durch meinen Kopf zu spazieren, ganz bei sich zu sein und die entlegensten Ecken und Enden des eigenen Ich zu erkunde – das wäre spannend.
Was ist für Sie ein perfekter Tag?
Ein perfekter Tag ist ein Tag, an dem ich manchmal allein sein kann, dann wieder etwas mit Freunden und spannenden Menschen unternehme. Ein gutes Essen genieße, ein gutes Buch lese, einen verrückten Gedanken habe, ein Gläschen Wein trinke – und am Ende des Tages den Eindruck habe, dass die Welt – trotz und wegen aller Widrigkeiten – ein ziemlich guter Ort ist.
Wo/an welchen Orten findet man ein gutes oder besseres Leben?
Gutes Leben findet hier und jetzt statt. Egal wo man lebt und ist. Weil man letztlich doch jeden Tag mit sich selbst leben darf und muss. Natürlich gibt es inspirierende Orte, an denen es leichter ist, gut zu leben. Aber wo das ist, das wird jeder für sich entscheiden müssen.
Was ist für Sie ein gutes Buch bzw. eine gute Lektüre?
Eine gute Lektüre ist widerspenstig und vielschichtig. Sie kann meinen entschiedenen Widerspruch herausfordern, aber auch meine ganze Zustimmung erfahren. Eine gute Lektüre weckt Zweifel am scheinbar Unhinterfragbaren. Manchmal spendet sie auch Trost. Sie reißt Mauern ein und macht mir Zusammenhänge und Verbindendes klar. Und manchmal bringt sie mich einfach zum Lachen oder Weinen.
Was braucht es, damit Sie am Ende Ihres Lebens zurückblickend sagen können, dass es ein gutes Leben war?
Die Frage ist schwer. Vielleicht, dass sich am Ende meines Lebens die Dinge irgendwie zu einem Ganzen fügen. Nicht so wie eine gerade Linie. Sondern so, dass ich erkenne, wie ich mich im Laufe meines Lebens verändert habe, wie ich an und mit anderen gewachsen bin. Dass die Teile meines Lebens, so widersprüchlich oder fragmentarisch sie von außen wirken mögen, für mich einen Sinn haben. Und dass ich am Ende meines Lebens gut aushalten kann, dass mancher Faden nur aufgenommen, aber nicht zu Ende gesponnen wurde – und es, wann auch immer das Ende da ist, gut ist, wie es ist.
Wie muss jemand leben oder gelebt haben, damit Sie ihn als Vorbild eines guten Lebens akzeptieren?
Es gibt viele Menschen, die ich hier vor Augen habe. Berühmte und weniger berühmte. Ein paar Eigenschaften fallen mir gleich bei allen ein: Gelassenheit, guter Humor, die Eigenschaft zu sich zu stehen, die Erkenntnis, dass es für Selbsterkenntnis nie zu spät ist und wir nicht aufgeben sollten, uns selbst zu erkennen, Zugewandtheit für andere.
Welche Rolle spielt Arbeit für ein gutes Leben?
Arbeit ist als ein Professor ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber ein gutes Leben erschöpft sich nicht darin. Ansonsten ist man zu erschöpft und Teil des Hamsterrades, um wirklich gut zu leben.
Am Ende von Rainer Maria Rilkes Sonett »Archaischer Torsos Apollos« heißt es: »Du mußt dein Leben ändern.« Welches Buch hat Sie aus welchen Gründen schon einmal auf den Gedanken gebracht, dass es eine gute Idee wäre, Ihr Leben zu ändern?
Hm, müssen muss man ja eigentlich gar nichts. Aber tatsächlich ist für mich die schönste Aufforderung jeden Tag ein wenig im Leben zu verändern und sich immer wieder »nachzujustieren« das biblische Buch der Psalmen. Für mich funktionieren »Revolutionen« und »alles umkrempeln« nicht so gut. Aber kontinuierlich nachdenken und behutsam an sich zu arbeiten, das geht (meistens) ganz gut.
Wenn Sie Ihren eigenen Grabstein, klassisch oder plurimedial, entwerfen sollten: Was sollte darauf zu stehen kommen?
Mein Name und meine Lebensdaten. Wer mich gekannt hat, weiß damit genug anzufangen. Und wer mich nicht kennt, kann sich vielleicht zu Namen und Daten eine Geschichte nach Wahl ausdenken. Dramatische Sinnsprüche und Kalenderblattsentenzen sind doch nur der verzweifelte Versuch, noch im letzten Moment die Deutungshoheit über das eigene Leben zu haben. Das überlassen wir doch der Nach- und Mitwelt.
Der Tag der Pensionierung/Rente ist gekommen. Nennen Sie fünf Dinge, die Sie selbst gern noch in die Hand nähmen, um Ihr Leben schließlich als abgerundet betrachten zu können!
Ich werde erst in 19 Jahren pensioniert. Bis dahin muss ich erst einmal Tag für Tag gut leben. Wer weiß schon, was ich für die Zeit nach der Pensionierung für ein gutes Leben brauche? Naja, vielleicht einen anhaltend wachen Geist. Das wäre schon gut.
Wieviel Platz hat Leid in einem guten Leben?
Gutes Leben ist nicht immer auch ein »glückliches«, im Sinne von: sorgenfreies, Leben. Krankheit und Leiden gehören zum Leben dazu und schließen ein gutes Leben nicht aus. Auch als kranker Mensch kann man – den Umständen entsprechend – gut leben, wenn ich mich zu mir und meiner Krankheit ins Verhältnis setze, mir neue Ziele setze, empathisch bin. Das Leid in der Welt macht mich dankbar für das gute eigene Leben, fordert mich gleichzeitig auf, mit und auch für andere zu leben – Dinge besser zu machen.
Wie müsste sich der Umgang mit der Zeit ändern, um Ihr Leben nachhaltig zu verbessern?
Manchmal »hat« die Zeit mich. Dann funktioniere ich unentwegt in Vorlesungen, Sitzungen, Gesprächen, Gremien etc. An solchen Tagen brauche ich abends viel Zeit für mich, um mich wieder zu erden. Oder Auszeiten, weil der Alltag sehr anstrengend ist. Was wäre gut? Zeiten im Kalender blockieren, um nachhaltiger zu entspannen. Mehr Zeit mit guten Freunden haben. Nur ein Ding zur selben Zeit tun. Und vor allem immer wieder in Kurzurlaube zu fahren, um dort nichts anderes zu tun als eben »nichts« :-)
Wie viele und welche Freunde braucht man für ein gutes Leben?
Es braucht mindestens einen Freund. Vielleicht auch ein paar mehr. Aber die Zahl ist egal. Aber nur so viele, dass man intensive und tiefe Freundschaften auch noch pflegen kann. Welche? Solche, bei denen man einfach »Ich« sein kann. Und der andere das genau so sieht. Echte Gegenüber. Und manchmal gerne auch ganz anders als ich.