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Kolloquium zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte: Jörg Niewöhner: Epigenetik - Zur Renaissance lokaler Biologien aus kulturanthropologischer Perspektive

When

Nov 02, 2015 from 06:00 to 08:00 (Europe/Berlin / UTC100)

Where

Institut für Geschichte der Medizin - Seminarraum Iheringstraße 6, 35392 Gießen

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0641/99-47701

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Prof. Dr. Jörg Niewöhner
(Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Europäische Ethnologie)


Epigenetik - Zur Renaissance lokaler Biologien aus kulturanthropologischer Perspektive


Lorraine Daston hat in ihren Tanner Lectures auf die Parallelität in der Entwicklung von moralischer und natürlicher Ordnung im Europa der frühen Neuzeit hingewiesen: weg von Sitte und Brauch, hin zu nationalstaatlicher Gesetzgebung und Naturgesetzen. Die fortschreitende Biomedikalisierung und Molekularisierung der Lebenswissenschaften im 20. Jahrhundert scheint dieser These zu entsprechen.
In meinem Vortrag möchte ich diskutieren, wie ausgerechnet auf molekularer Ebene nun „Sitte und Brauch“ wieder an Relevanz gewinnen (könnten). Umweltepigenetik oder soziale Epigenetik ist ein Forschungsfeld, das in den letzten 20 Jahren zu enormer Popularität aufgestiegen ist. Hochrangig publizierte Forschung diskutiert hier die Möglichkeiten der molekularen Verankerung sozialer Phänomene, wenn, zum Beispiel, soziale Ungleichheit mit Methylierungsmustern korreliert wird.

Anhand einer ethnographischen Perspektive auf das Forschungsfeld möchte ich zwei Fragekomplexe diskutieren: Erstens gilt es in der Tradition Foucaultscher Genealogien die Auswirkungen dieses neuen Wissens auf gesellschaftliche Dispositive von Familie und Reproduktion, Verantwortung und Solidarität zu problematisieren. Verbindungen in die Geschichte der Biologie und der Medizin, v.a. die Sorge vor einer Renaissance eugenischer Programme, sind hier kritisch zu befragen. Mein Hauptaugenmerk gilt aber der Frage, inwieweit durch diese Forschung eine ko-laborative Verbindung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften ermöglicht wird. Das in der Medizinanthropologie entwickelte Konzept der Lokalen Biologie (Margaret Lock) hat bereits in den 1980er Jahren auf die kulturelle Situiertheit materieller Körperlichkeit verwiesen. Der Aufstieg der Epigenetik befördert nun am Schnittfeld von Biologie und Anthropologie diese Diskussion um das, was ich ein wenig provokativ eine „Gebrauchsbiologie“ nennen möchte. Gefahren und Chancen einer solchen Forschungsrichtung im 21. Jahrhundert müssen vor allem auch vor dem Hintergrund ähnlich gelagerter historischer Konfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert analysiert werden. Hier erhoffe ich mir von der Diskussion im Kolloquium neue Anregungen für die anthropologische Forschung.