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Post/Doctoral Perspectives Lecture Series: Das ländliche Gedächtnis als Forschungsparadigma: Überlegungen zu Mündlichkeit, Interaktionalität und Prozessualität

When

Jun 08, 2017 from 12:00 to 02:00 (Europe/Berlin / UTC200)

Where

Phil I, GCSC, R.001

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Das Konzept des ländlichen Gedächtnisses erlaubt es, durch Mündlichkeit und Habitustransportiertes Erinnern und Vergessen in der (deutschen oder österreichischen) Peripherie – im Gegensatz zum kulturellen/ urbanen Zentrum und durch Schriftlichkeit kanonisierte Erinnerung– zu analysieren. Der Beitrag versteht sich als Teil der memory studies und als Modifikation des kollektiven, kulturellen, kommunikativen und Familien-Gedächtnisses. Dem Konzept liegt zunächst die Vorstellung von Sozialen Gedächtnissen zugrunde. Diese entstehen durch Erinnerung, also dem rekonstruktiven, durch Schemata strukturierten Zugriff auf gesellschaftlich sedimentiertes Wissen. Gesellschaftliches Vergessen und Erinnern sind auch in diesem Verständnis untrennbar miteinander verbunden. Soziale Gedächtnisse dienen dazu, Vergangenes zu verarbeiten, und es mit Blick auf die Zukunft zu typisieren – und somit als Wissen für künftige Praxen und Handlungen zur Verfügung zu stellen. Werden bestimmte Schemata selten oder gar nicht mehr aufgerufen oder modifiziert, wird vergessen. Dies bedeutet, dass Vergessen graduell vonstatten geht und kaum etwas sofort dem absoluten Vergessen anheim fällt. In ähnlicher Weise können auch Tabus graduell entstehen. Soziale Gedächtnisse werden erheblich durch Mündlichkeit und Körpergedächtnisse geformt. Die Mündlichkeit im ländlichen Raum zeichnet sich wiederum durch einen hohen Grad an Interaktionalität aus. Es sind dort (nicht nur dort) verschiedenste Gesprächstypen, wie etwa Klatsch, Anekdoten, Sagen, Tischgespräche, die mündliche Erzählungen formen – und in denen häufig ihre mündliche, dialogische, also durch den antizipierten Blick von außen gebrochene – und nicht schriftliche, wie etwa durch Tagebucheinträge entstandene, – Provenienz ablesbar ist. Erinnern und Vergessen ist in Alltag und Routinen eingeflochten. Die biographische, subjektzentrierte Narration (ein Mittel, dessen sich die Oral History und die soziologische Biografieforschung häufig bedient), ist dagegen ein (bürgerliches) Genre, das im ländlichen Raum ausnahms-, nicht typischerweise angewendet wird. In jenen Gesprächsgattungen manifestieren sich sich wiederholende und leicht variierte Topiken. Schließlich soll auf Vorstellungen vom ländlichen Raum, und damit verbunden, auf ländliche Medialität eingegangen werden. Das ländlich - regionale Gedächtnis ähnelt in seiner Funktionsweise dem Familiengedächtnis: Es handelt sich um eine kleine Gruppe, die interaktional erinnert. Die mündlich tradierten, ländlichen Topiken sind Teil dieser Medialität, ebenso wie die Vermutung der im ländlichen Raum Lebenden, man kenne alle in der Umgebung und könne sie alle – einem Hof, einer Familie, einem Feld zuordnen. Zudem verstärken etwa Lokalpresse und/oder Heimatmuseen, historische Festspiele die Vorstellung von dieser Gruppenidentität. Exemplarisch werde ich auf ausgewählte Aspekte des Erinnerns und Vergessens von NS-Zwangsarbeit im ländlichen Raum eingehen, die in ihrer Logik mit dem Konzept des ländlichen Gedächtnisses schärfer analysiert werden können. Der Vortrag ist auch ein Plädoyer dafür, sich bei Erinnerungsforschung nicht ausschließlich auf die Analyse fest stehender Werke, Rituale, Archive und ihren Betrieb zu fokussieren oder in narrativen/biografischen Interviews um einen blind spot zu kreisen, der für ein_n Forscher_in erst erkennbar wird, wenn Medialität, Interaktionalität, Prozessualität und den Interviewten eigenen Kommunikations- und Erinnerungsformen mit berücksichtigt werden. Er ist also auch ein Plädoyer dafür, bei Forschungsvorhaben mithin ländlicher zu werden und bislang angewandte Methoden und Episteme zu erweitern.

 

//Angelika Laumer