Raetsel um Verschleierte Jungfrau
Studie von Wahrnehmungspsychologen aus Gießen und Rochester untersucht bekannte Skulptur
Nr. 83 • 18. Mai 2020
Kunst, Religion und Neurowissenschaften kommen nicht oft zusammen. Ganz anders bei einer aktuellen Studie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und des Rochester Institute of Technology: Dafür ließen sich die beiden Autoren Prof. Dr. Roland W. Fleming (JLU) und Prof. Flip Philips (Rochester) von der Marmorskulptur „Die verschleierte Jungfrau“ des italienischen Bildhauers Giovanni Strazza inspirieren. Die berühmte Büste aus dem 19. Jahrhundert spielte bei der Suche nach bislang unbekannten Gehirnprozessen, die an der visuellen Wahrnehmung beteiligt sind, eine wichtige Rolle. Die Studie wurde jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „PNAS“ veröffentlicht.
„Die Skulptur stellt auf wunderschöne Weise das Gesicht der Jungfrau Maria dar, das hinter einem zarten, transparenten Schleier verborgen ist“, sagt der Wahrnehmungspsychologe Prof. Fleming. „Aber eigentlich ist es nur ein Klumpen aus massivem Marmor. Wie geht das Gehirn also davon aus, dass eine Form - das Gesicht – hinter einer anderen Oberfläche – dem Schleier – verborgen ist?“
Aktuelle Theorien der Formwahrnehmung können nicht erklären, wie wir ein Objekt sehen können, das vollständig hinter einem anderen verborgen ist. Es ist zudem ein Rätsel, wie wir sagen können, dass der Schleier durchsichtig ist – das Gesicht aber nicht –, wenn die gesamte Skulptur aus einem einzigen Material besteht. Der Schluss liegt nahe, dass das visuelle System auf eine bestimmte Weise die „Ursachen“ verschiedener Formmerkmale auf der welligen Oberfläche der Skulptur identifizieren kann. Demnach müsste das Gehirn unterscheiden können, welche Teile der Oberfläche auf die Faltung und Drapierung des Textils zurückzuführen sind und welche darauf, dass das Gesicht gegen das Tuch drückt.
Um dies zu testen, untersuchten die Wissenschaftler zunächst, ob die Beobachter die unterschiedlichen Formmerkmale auf der verschleierten Jungfrauenskulptur wirklich voneinander trennen können. „Wir haben 40 Freiwilligen Fotos der Skulptur gezeigt“, erklärt Prof. Flip Phillips. „Wir baten sie, auf der Skulptur anzuzeigen, welche Teile des Tuchs mit dem Gesicht in Kontakt seien und welche nicht.“ Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stimmten in ihren Einschätzungen nahezu perfekt überein und konnten die Ursachen für die verschiedenen Teile der Statue problemlos voneinander trennen.
„Unsere Gehirne haben sich natürlich nicht entwickelt, um uns bei der Interpretation von Marmorstatuen zu helfen", betont Prof. Fleming. „Die Ergebnisse mussten daher auf ein allgemeineres Phänomen hinweisen.“ Die Forscher schufen im Anschluss neue abstrakte Formen aus Draht und Pappe und umwickelten sie mit Stoff. Durch digitales Scannen der Objekte konnten sie die Reaktionen der Beobachter mit den realen 3D-Formen vergleichen. Dabei stellten sie fest: Auch wenn die Testpersonen die Objekte noch nie zuvor gesehen hatten, waren sie in der Lage, die Formveränderungen in der Oberfläche voneinander trennen. So konnten sie sogar Rückschlüsse auf die dreidimensionale Form eines Pappobjekts ziehen, obwohl es vollständig hinter dem Tuch verborgen war.
Zwar sind die genauen Hirnmechanismen, die diese Rückschlüsse ermöglichen, weiterhin nicht bekannt. Die Ergebnisse eröffnen aber neue Ansatzpunkte für die Erforschung der Formwahrnehmung.
- Publikation
Flip Phillips and Roland W. Fleming: The Veiled Virgin effect: Visual segmentation of shape
by cause. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), May 2020
https://doi.org/10.1073/pnas.1917565117
- Bild
Schleier? Gesicht? Oder einfach ein Klumpen Marmor? Die Skuptur „Die verschleierte Jungfrau” von Giovanni Strazza inspiriert die Wahrnehmungspsychologie.
Foto: Shhewitt, CC BY-SA 4.0
- Kontakt
Prof. Dr. Roland Fleming, Allgemeine Psychologie
Telefon: 0641 99-26140
Presse, Kommunikation und Marketing • Justus-Liebig-Universität Gießen • Telefon: 0641 99-12041