Geschichte
Interessantes zur 400-jährigen Geschichte des Botanischen Gartens der Justus-Liebig-Universität Gießen
413 Jahre Botanischer Garten der Universität Gießen
Garten der Evolution - seit 1609
Die Anfänge des Botanischen Gartens gehen auf das Jahr 1609 zurück, als LANDGRAF LUDWIG von HESSEN-DARMSTADT der zwei Jahre vorher in Gießen gegründeten Universität ein Lustgärtchen am Schloßturm zur Einrichtung eines „hortus medicus“ (Heilpflanzengarten) überließ. Der Botanische Garten der Justus-Liebig-Universität ist somit der älteste botanische Universitätsgarten Deutschlands, dessen alte Teile noch immer zur heutigen Anlage gehören. Erster Leiter war der Professor der Medizin und Botanik LUDWIG JUNGERMANN (1592-1653). Von ihm stammen die ältesten deutschen Lokalfloren, so auch ein 1623 zusammengestelltes Verzeichnis für die Umgebung von Gießen, welches leider verschollen ist. Bis zur vorläufigen Aufgabe des Gartens im Jahre 1625 in Folge des Dreißigjährigen Krieges hat sich Jungermann für den Gießener Heilpflanzengarten eingesetzt.
Durch den Umzug der Universität nach Marburg hatte die Medizinische Fakultät den Besitz des Heilpflanzengartens verloren. Nach der Rückkehr verfasste im Sommer 1659 JOHANN TACKIUS (1617-1676) ein Memoriale über den Hortus Medicus. Man habe den Garten einer Wildnis gleich gefunden, umgeben von einem niedrigen Zaun aus Holzplanken. Wenn der Garten einem Horto medico ähnlich werden solle, müsse u. A. ein neuer Zaun herumb geführt werden, alles Gesträuch und Wildnis ausgerottet, für die Überwinterung kälteempfindlicher Pflanzen in einem hierzu bequemen Gartenhaus gesorgt und der Garten wohl observiret sein. Als Gewächshaus und Laboratorium erbat man ein Häuschen, welches bereits 1617 im medizinischen Fakultätsbuch genannt wurde. 1660 bezog dann Henrich Schmidt als Gartenwärter das ehemalige Waschhaus der landgräflichen Hofhaltung.
1800 wurde unmittelbar neben dem Botanischen Garten der Medizinischen Fakultät ein Forstbotanischer Garten errichtet. Sein erster Leiter wurde FRIEDRICH LUDWIG WALTHER (1759-1824). Die ältesten noch vorhandenen Bäume stammen aus seiner Zeit, so ein Ginkgo, der 1816 für 1 Gulden 30 Kreuzer Frankfurter Wehrung aus dem Freiherrlich Riedesel´schen Garten in Stockhausen bei Herbstein bezogen wurde. Im Dekanatsbuch der Philosophischen Fakultät von 1824 findet sich ein Eintrag zur Zweckbestimmung des Gartens: Die Bestimmung desselben war, theils für in- und ausländsiche Hölzer zu dienen, zum Unterricht für die Forststudenten, theils aber auch zum Spazieren-gehen für die Honoratioren unserer Stadt. Deshalb wurden damals absichtlich 2 große Alleen darin angelegt, welche den Spaziergängern Schatten verschaffen sollen…
Durch den Besitz des forstbotanischen Gartens war die Universität Nachbar des Walls geworden und hatte hier das Recht des ersten Zugriffs auf Landgewinn durch das Schleifen der Befestigungsanlagen. Die Arbeiten dauerten von 1806-1810. Auf dem nördlichen Teil wurde 1814 das Accouchierhaus – eine Geburtsklinik – errichtet, der mittlere Teil für mögliche Erweiterungen der Klinik reserviert. Der südlichste Teil – etwa 4.000m² – wurden zunächst dem Universitätsgärtner Sauer zur einstweiligen Nutzung überlassen, der mit dem tonigen Boden arg zu kämpfen hatte. 1818 wurde dieser Bereich auf Intervention des damaligen Direktors, JOHANN BERNHARD WILBRAND (1779-1846), dem medizinisch-botanischen Garten zugeschlagen, der nunmehr, durch den forstbotanischen Garten getrennt, aus zwei Teilen bestand.
Am 30. März 1824 starb Friedrich Ludwig Walter. Im Dekanatsbuch der Philosophischen Fakultät ist hierzu u. A. vermerkt: Ein vorzügliches Verdienst erwarb sich der seelige Mann im Anfang dieses Jahrhunderts durch die Anlegung des damaligen Forst-botanischen Gartens… Die Freunde des seeligen Walthers werden deshalb in dankbarer Anerkennung seiner Verdienste um die damalige Anlage dieses jetzt total veränderten forstbotanischen Gartens dem Verstorbenen ein Denkmal in demselben errichten, nämlich ein Monument aus Guß-Eisen mit einer passenden Inschrift versehen, welches gegenwärtig auf der Friedrichs-Hütte bei Laubach gegossen wird. 1826 wurde dieses Denkmal zwischen zwei Platanen mit Blick auf das Alte Schloß aufgestellt. Es existiert heute noch und wurde 2006 vom Freundeskreis Botanischer Garten und der Universität in der Friedrichs-Hütte, die heute zur Fa. Buderus gehört, fachgerecht restauriert.
Ende 1823 ergab sich durch die Verwendbarkeit der Kaserne auf dem Seltersberg als Klinik Zweckfreiheit für die Mitte des Wallstücks. Prof. Wilbrand nahm dies zum Anlass, die Vereinigung der Teilstücke des Bot. Gartens unter Einbeziehung auch des forstbotanischen Gartens zu betreiben. Im Oktober 1824 wurde ihm schließlich die Aufsicht für die Gesamtheit des Botanischen Gartens einschließlich des einverleibten Forstgartens übertragen. Als Ersatz wurde von einer prominenten Gruppe von Forstfachleuten im August 1824 der Forstgarten am Schiffenberg für Zwecke der forstlichen Lehre ausgewählt. Ebenfalls 1824 erscheint der erste Samenkatalog (index seminum) des Botanischen Gartens, fünf Jahre später wird vom Samentausch mit 24 botanischen Gärten berichtet.
Als J.B. Wilbrand 1846 starb, stand für das botanische Fach HERRMANN HOFFMANN (1819-1891) bereit. Doch konnte dieser erst 1851 - nach der vertretungsweisen Berufung von Carl Justus Heyer und einem kurzen Gastspiel von Alexander Heinrich Braun - als erster selbständiger Botaniker der Ludoviciana nach Jungermann seinen Dienst antreten. Unter seiner Leitung wurde der Bot. Garten zum Kernstück eines internationalen Projekts der meterologisch-phänologischen Forschung. Die Phänologie befasst sich mit den im Jahresverlauf periodisch wiederkehrenden Entwicklungserscheinungen in der Natur, z. B. dem Beginn der Blüte bei bestimmten Pflanzen. Aus diesen langfristigen Beobachtungen können beispielsweise Aussagen über Klimaveränderungen abgeleitet werden. An Hoffmann erinnert eine Gedenktafel im Bereich des Botanischen Instituts in der Senckenbergstraße.
Unter der Leitung des Instituts- und Gartendirektors ADOLPH HANSEN (1851-1920) und der tatkräftigen Unterstützung durch den Garteninspektor FRIEDRICH REHNELT (1861-1945) nahm der Botanische Garten einen kräftigen Aufschwung. Die systematische Ordnung der Freilandpflanzen wurde konsequent durchgeführt, den Medizinalpflanzen und vielen Pflanzengruppen besondere Beachtung geschenkt. Von größter Bedeutung für Forschung, Lehre und Anschauung war die Errichtung mehrerer Kalthäuser und eines stattlichen Überwinterungshauses, welches 1904 eingeweiht wurde. 1908 ließ Hansen einen Führer durch den Botanischen Garten Gießen drucken. Die 122-seitige Broschüre enthält keine Karte und kein Inhaltsverzeichnis und war wohl eher für Studenten hilfreich als für ästhetisch und wissenschaftlich interessierte Spaziergänger.
ERNST KÜSTER (1874-1953) war der letzte Ordinarius für Botanik der Ludoviciana. Über den Beginn seiner Tätigkeit schreibt er: Große Freude erlebte ich jederzeit am Botanischen Garten; er hat mich nicht nur durch den guten Zustand seiner gründenen (grünenden?) Welt bei meiner Ankunft in Gießen besonders freundlich begrüßt, sondern auch vom ersten Tage an durch die Schönheit seiner Lage und Gliederung immer aufs Neue gefesselt… 1927 ging Garteninspektor Rehnelt in Ruhestand, sein Nachfolger wurde HEINRICH NESSEL (†1949). Dieser brachte aus seinem Privatbesitz eine viel bewunderte Kakteenkollektion mit. Über den alliierten Luftangriff vom 6. Dezember 1944 schreibt Küster: Im Botanischen Garten, der von 200-300 Brandbomben heimgesucht worden war, klirrten die Scheiben aller Glashäuser zu Boden. Der Bestand an alten Bäumen blieb auffallend gut erhalten. Das Denkmal für Ernst Küster, 1954 eingeweiht, steht am Graben, dem Schloß benachbart.
Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg wurde, noch unter Küsters Leitung, mit dem Wiederaufbau des Gartens begonnen, der unter der Leitung von DIETRICH VON DENFFER (1914-2007 – Leitung bis 1976) und RÜDIGER KNAPP (1917-1985 – Leitung bis 1982) mit dem Neubau der Gewächshausanlagen vollendet wurde. Unter dem Wissenschaftlichen Leiter Prof. AART J.E. VAN BEL (Leitung bis 2009) sowie insbesondere seinem Nachfolger Prof. VOLKER WISSEMANN (seit 1.4.2009) erlebt Lehre und Forschung im Botanischen Garten einen neuen Aufschwung. Mit der Neukonzeption der Sytematischen Abteilung im Jahr 2015 hat das digitale Zeitalter auch den Botanischen Garten erreicht. Zahlreiche Pflanzenschilder sind bereits mit einem QR-Code versehen, mit dem Verbindung zu einer Datenbank hergstellt werden kann. Mit dem Neubau von 3 Gewächshäusern (Fertigstellung 2020) wird die Gewächshausgeschichte architektonisch anspruchsvoll fortgeschrieben und die Möglichkeiten für die Lehre vor Ort erheblich verbessert.
Die Stadt Gießen stellt seit 1977 Aufsichtspersonal für den Garten, so dass die Besucher in den Genuss von längeren Öffnungszeiten kommen. Mit der Gründung des Freundeskreises Botanischer Garten 1997 beginnt in der Öffentlichkeitsarbeit eine neue Dimension. Ein blindengerecht gestalteter Duft- und Tastgarten bereichert seit 2006 das Angebot des Botanischen Gartens für die Besucher.
Seit 1609 ist der Botanische Garten Gießen fester Bestandteil und zentraler Ort von Forschung und Lehre der Universität Gießen. In keinem anderen Zentrum bilden sich die Schwerpunkte der Universitätsentwicklung hin zum heutigen Zukunftskonzept Translating Science so deutlich ab wie hier. Forschung und Lehre zur Biodiversität der Pflanzen und das Verständnis der Mechanismen der Evolution des Lebendigen als Grundlage der Ressourcen menschlichen Lebens prägen die Entwicklung des Gartens vom Hortus medicus zum “Garten der Evolution”.
Der Botanische Garten Gießen ist ein universitärer Garten, der Forschung und Lehre dient. Er will sein nationales und internationales Ansehen durch seine Profilbildung zum “Garten der Evolution” stärken. Dabei konzentriert er sich besonders auf die Ziele:
Forschung & Lehre:
Forschungsorientiertes Lehren und Lernen in Spezialsammlungen zu aktuellen Forschungsthemen und der Sondersammlung zur Evolution der pflanzlichen Vielfalt.
Bildung
Ausseruniversitäre Bildungsangebote, Grüne Schule "IMPLANTARIUM"
Internationalität
Spezialsammlungen definierter Wildherkünfte im Rahmen internationaler Forschungskooperationen
Nationale Verantwortung
Diversität
Aus seiner 400-jährigen Tradition heraus fühlt sich der Garten in einem besonderen Maße dem Schutz der Biodiversität in Hessen verpflichtet und engagiert sich mit Erhaltungskulturen für höchstgradig gefährdete Pflanzen in Hessen.
Holger Laake – Technischer Leiter
(Quelle: Hans Joachim Weimann – Gärten der Ludoviciana)