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Denkmal an Darwin - Der Gießener Evolutionsdenkpfad

Der Gießener Evolutionsdenkpfad "Denkmal an Darwin" zum 400-jährigen Jubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen

Projekt zum 400. Geburtstag des Botanischen Gartens in Gießen sowie zum Aufbau des Leitbildes eines „Garten der Evolution“

 

Darwin-Down-House

Planung und Konzeption
 
Prof. Dr. habil. Volker Wissemann
Institut für Allgemeine Botanik
AG Spezielle Botanik
Justus-Liebig-Universität Gießen
Carl-Vogt-Haus
Heinrich Buff-Ring 38
D-35392 Gießen

Dipl. – Ing. Holger Laake
Botanischer Garten der Justus-Liebig-Universität Gießen
- Technischer Leiter -
Senckenbergstr. 6 
35390 Gießen

 

 Einleitung

Wie kaum eine andere Stadt Deutschlands trägt Gießen heute das Erbe des im 19. Jahrhunderts beginnenden Materialistenstreits und der damit einhergehenden Debatte um Evolution oder Schöpfung. Der Gießener Zoologe August Christoph Carl Vogt (geb. 5. Juli 1817 in Gießen, gest. 5. Mai 1895 in Genf), der in der Mitte des 19. Jh. mit seinen popularisierenden Schriften zur Zoologie die Abstammung des Menschen vom Affen propagierte und einer der Wegbereiter der Darwinschen Lehre von der Transformation der Typen wurde, repräsentiert symbolisch den Pol aktueller, hypothesengeleiteter Evolutionsforschung. Das Spannungsfeld Evolution-christliche Weltanschauung-Kreationismus kennzeichnet den anderen Pol. 

Mit dem Projekt  “Denkmal an Darwin!“ – Der Gießener Evolutionsdenkpfad“ soll an diesem Brennpunkt der Debatte mit der Universität Stellung bezogen und die Bedeutung der Evolutionsbiologie als Konzept zur Erklärung des Lebens auf der Erde herausgestellt werden. Das Projekt dient als Grundlage für eine Konzeption des Gartens unter dem Leitbild „Garten der Evolution“. Es geht einher mit der Verankerung des Gartens unter diesem Leitbild in der Zielvereinbarung mit der Universität. Ziel ist es, im Jubiläumsjahr 2009, das zugleich das Darwin-Jahr ist (150 Jahre Origin of species) das neue Gartenkonzept sichtbar zu machen und dem Garten damit eine Richtung für die Sammlungsstrukturen zu geben. Hinzu kommt, dass der Garten 2009 erstmalig die Verbandstagung des Verbandes der Deutschen Botanischen Gärten ausrichten wird. Auf dieser Tagung wird diskutiert werden, wie das Thema „Evolution“ in Bot. Gärten umgesetzt werden kann.

 

Die Idee

Auf einem historisch geleiteten Sandweg, der Darwins Sandpath in Down House repräsentiert, durchläuft der Besucher Stationen, an denen er mit zentralen Fragen des Lebens konfrontiert wird. Diese Fragen akkumulieren von Station zu Station, um in der letzten Station „evolutio: Denkmal an Darwin“ Antwort zu finden. Der Entwurf wendet sich an sehende und blinde Besucher jeder Altersstufe, er kann einzeln begangen werden oder in Gruppen, er erschließt sich selbst oder aber ist durch Führungen erlebbar. Die Konstruktion als Sandweg, der durch hohe Bambusbepflanzung sichtdicht und raumbildend ist, erlaubt die intensive Beschäftigung mit existentiellen Fragen in einer grünen Oase inmitten der Stadt. Die Anlehnung an Darwins Sandpath in Down House, auf dem er während langer Wanderungen seine Ideen bildete, symbolisiert unsere Überzeugung, dass es durch eigenes Denken aufgrund von Anregungen durch Fragen möglich ist, selbstständig Lösungen über die Grundfragen des Lebens zu finden.
Im Darwin-Jahr 2009 wird der Botanische Garten Gießen 400 Jahre alt, er ist der älteste Garten Deutschlands am permanent selben Platz. Stets hat er in seiner Geschichte Anschluss gesucht und gefunden an die aktuellen Forschungsthemen in der Biologie. Konsequenterweise wird der Botanische Garten Gießen von seiner inhaltlich-fachlichen Ausrichtung derzeit zu einem „Garten der Evolution“ fokussiert. Er soll so zu einem Ort für den Dialog Wissenschaft und Gesellschaft werden, an dem „Evolution heute“ wissenschaftlich fundiert, kompetent und sichtbar diskutiert und begriffen werden kann. Im nächsten Schritt wird eines der bestehenden Gewächshäuser zu einem Evolutionshaus umgestaltet, um in der Ausbildung der Studierenden bei Lehrerfortbildungen sowie auf Führungen für Schüler die Entstehung und Diversifizierung des Pflanzenreichs im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar zu machen.

 

Die Anlage

    Das Projekt “Denkmal an Darwin!“ – Der Gießener Evolutionsdenkpfad“  sieht einen zentral im Garten angelegten unidirektional geleiteten Weg von etwa 150m Länge auf ca. 200m2 Grundfläche vor. Der Weg besteht aus mit Muschelschalen und eiszeitlichem Geschiebe versetztem Sand und ist beidseitig von Bambus eingefasst, der eine Höhe von etwa 5m erreichen wird. Hierdurch ergibt sich ein geschlossener Raum, der die Spaziergänger und ihre Gedanken von der Außenwelt abschirmt und die Möglichkeit bietet, diesen Gedanken Raum und Zeit zu geben. Die in der Höhe zusammenneigenden Bambustriebe sollen in ihrer kathedralartigen Wirkung eine Atmosphäre schaffen, die den Dialog zwischen inneren Gedanken und externer Anregung durch Fragen erlaubt. Diese externe Anregung durch Fragen geschieht an 5 Stationen des Weges, an denen sich Fragetafeln befinden, jeweils 2 Sitzbänke laden ein, über diese Fragen nachzudenken. An 4 dieser Stationen, die historisch aufeinander aufbauen, symbolisieren Bronzebüsten Vertreter der verschiedenen Denkmodelle zur Erklärung des Lebens auf dem Weg hin zur Evolutionstheorie.
   

    Das Konzept

 

Plan des Evolutionsdenkpfades

    Station 1: Metaphysica. Nach Eintritt in den „Gießener Evolutionsdenkpfad“ und einem Weg von etwa 20m Länge stößt der Besucher auf eine Tafel mit 5-8 Fragen, die ihn ohne zeitlichen Kontext und ohne Bezug zur Frage Kreationismus oder Evolution mit den Grundfragen unseres Lebens konfrontiert. Als zentrale Frage wird stehen: Woher kommen wir? Mit diesen Grundsatzfragen angeregt erreicht der Besucher Station 2.

    Station 2: Scala naturae. Die Vielfalt des Organischen und Anorganischen zu ordnen und in ihrer Diversität und Komplexität auf Grundeinheiten zu reduzieren, ist eine der wesentlichsten Errungenschaften und Grundlagen des Denkens. Diese Ordnungsversuche, die die Einheit in der Vielfalt suchen, gehen zurück auf das Modell der Scala naturae, der Stufenleiter der Natur oder „Kette der Wesen“, das seine Quelle in der aristotelischen Philosophie hat und bis weit in das 18. Jh. hinein das anerkannte und bevorzugte Erklärungsmodell für die Gliederung der Gesamtvielfalt, organisch und anorganisch ist. Die zentrale Frage an dieser Station muss sich mit der Idee der Seele und ihrer möglichen Existenz in Organismen, und damit deren Trennung voneinander befassen.

    Station 3: Creatio. Mit der Entdeckung der Vielfalt setzt im 18. Jh. die Epoche der hypothesengeleiteten und regelgebenden Systematik ein. Der Göttinger (und Berner) Universalgelehrte Albrecht v. Haller und der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linné repräsentieren diese Epoche und stehen als 2 Büsten im Dialog. Beide sind weltanschaulich fest im christlichen Glauben verankert, creatio, d.h. Schöpfung der Erde und des Lebens durch Gott bestimmen die Vorstellung einer Entwicklungsfähigkeit von Organismen. Haller als gefestigter Repräsentant des 18. Jh., Linné als „junger Wilder“, der Überkommenes hinterfragt und mit Traditionen bricht. Weder Linné noch Haller sind jedoch Kreationisten, denn sie beobachten die Entstehung neuer Formen (Haller: Entwicklung des Embryos in Eiern, Linné: Entstehung veränderter Blütentypen bei Linaria vulgaris). Die zentrale Frage an dieser Station muss die Diskussion aufwerfen, warum Kreationismus kein Alternativkonzept zur Evolutionsbiologie ist und sein kann. Die Frage nach der Entstehung und Plastizität von Organismen führt zu Station 4.

    Station 4: Tertium datur. Jüngst wurde in einem aufsehenerregenden Artikel des Göttinger Wissenschaftshistorikers N.A. Rupke (2006) gezeigt, dass neben der Vorstellung von Schöpfung und Evolution im 19. Jh. vor Darwin ein dritter Weg, tertium datur, existierte, mit dem die Entstehung und Wandlung des Lebens erklärt werden konnte. Einer der wesentlichen Protagonisten dieser Denkweise war der Gießener Zoologe Carl Vogt. Vogt und andere Kollegen (darunter z.B. Alexander von Humboldt) beobachteten das Auftreten neuer Tier- und Pflanzenformen und das Aussterben anderer. Nicht beobachtet wurde jedoch die Wandlung, d.h. die Mikroevolution innerhalb der Art, die zur Artbildung führt. Als Mechanismus wurde „autochtone Speziation“ angenommen, die Entstehung neuer Arten aus Urkeimen, die in einem Differenzierungsprozess durch einen nicht-schöpferischen Akt Formen entstehen ließen. Vogt, der nach dem Erscheinen von Darwins Origin of Species 1859 zu einem Anhänger Darwins wurde, war bis zu diesem Zeitpunkt glühender Vertreter seiner „Revolutionstheorie“. Leben entstand nach Vernichtung bestehenden Lebens nicht durch einen schöpferischen Akt, sondern durch spontane Entstehung aus den Urkeimen. Diese Sichtweise auf die Entstehung von Leben verband er mit dem Radikalismus seiner politischen Anschauungen und seiner politischen Arbeit im Materialismusstreit, die ihn nötigten, im Umfeld der Revolution von 1848 in die Schweiz zu flüchten. Leben war für ihn Revolution, die Abfolge von Vernichtung und Wiederentstehung auf höherer Ebene. An dieser Station muss die Frage zentral werden, wie unser Denken über die Mechanismen biologischer Evolution ausgreift in andere Lebensbereiche. Folgt Zusammenleben den Mechanismen der Evolution? Ist Evolution „sinnvoll“ oder „anarchisch“? Da sich unser Leben, unser Umfeld durch Evolution ändert, folgt dann daraus, dass auch andere Bereiche des menschlichen Zusammenlebens in ihrer Entwicklung durch evolutionäre Grundprinzipien geleitet werden (Evolution von Gesellschaften, von Wirtschaftssystemen, Arbeitswelt, Jurisdiktion, Leistungsprinzipien etc.)?
    Der Weg zur fünften und letzten Station ist der Längste (ca. 35-30m), um Zeit und Raum zu geben für die Suche nach Antworten.

    Station 5: Evolutio. An der letzten Station evolutio: „Denkmal an Darwin“ empfangen die Büsten von Charles Darwin und Ernst Haeckel die antwortsuchenden Besucher. Hier ist der größte Platz im Denkpfad, etwa 20m2, ein Raum, der es ermöglicht, abschließend und ausführlich im Dialog zu diskutieren bis hin zur Größe einer durchschnittlichen Schulklasse.
    Die letzte Informationstafel wirft keine Fragen auf, sondern gibt die Antworten der Evolutionsbiologie auf die Fragen nach der Entstehung der Erde, des Lebens und der Veränderung der Organismen in Raum und Zeit.
   

Die Materialien

    In Anlehnung an Darwins Sandweg in Down House verwenden wir für den Weg Sand aus der Region. Dieser Sand wird mit Muscheln und eiszeitlichen Geschiebesteinen der Küste versetzt. Die Muscheln erinnern einerseits an die Arbeiten Darwins, andererseits repräsentieren sie die Evolution der Tiere. Geschiebesteine der deutschen Küste zeigen die Entwicklung der anorganischen Natur und ihre Beweglichkeit durch die Gletschertätigkeit während der letzten Eiszeit. Die Geschiebe repräsentieren die Kräfte der Darwinschen Selektion.

Die Bepflanzung des Weges wird mit einer Bambusart (Phyllostachys bissetii) erfolgen. Bambus wurde gewählt, weil er einer der auffälligsten Organismen ist, an denen natürliche Auslese erklärt werden kann. Viele Arten der Gattung blühen in  Zeiträumen von 60-100 Jahren: „In seinem Buch: „Darwin nach Darwin“ beschreibt der Evolutionsbiologe Steven J. Gould einen Bambus mit dem Namen Phyllostachys bambusoides, der im Jahre 999 in China blühte. Mit unweigerlicher Sicherheit ungefähr alle 120 Jahre blühte er seitdem und setzte Samen an. P. bambusoides hält diesen Zyklus ein, wo immer die Pflanze wächst. Ende der 1960er Jahre blühten japanische Pflanzen (die selbst Jahrhunderte früher aus China importiert worden waren) gleichzeitig in Japan, England, Alabama und Rußland.“ Bei dieser Pflanze folgt also die geschlechtliche Reproduktion regelmäßig auf über ein Jahrhundert vegetativer Fortpflanzung. Offensichtlich wird die Blütezeit durch eine innere Uhr synchronisiert, denn es ist kein Umweltfaktor bekannt, der in dieser Periodizität auftritt. Die plausibelste Erklärung für dieses Phänomen ist für Gould das Prinzip der natürlichen Auslese. Bambussamen sind für eine Vielzahl von Organismen eine besonders schmackhafte Nahrung, die sie in großen Mengen vertilgen. Deshalb muß die Reproduktionsperiode so beschaffen sein, daß sich die Räuber nicht an die Zyklen anpassen können, denn dann wäre der Bambus vermutlich längst ausgestorben.“
    Geplante Büsten im Evolutionsdenkpfad
Die Büsten wurden von hessischen Künstlern für den Evolutionsdenkpfad entworfen und im Bronzeguss erstellt.