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Gastbeitrag: Nachbericht zur Spring School: "Frozen Moments in History"

Historische Momentaufnahmen / Frozen Moments in History

Spring School – Justus Liebig Universität Gießen, 11.–15. März 2019

Ulrike Koppermann & Michaela Scharf

 

Die Analyse visueller Zeugnisse und hier insbesondere von Fotografien ist zu einem integralen Bestandteil zeitgeschichtlicher Forschung geworden. Zeithistoriker_innen sind nicht länger Zuschauer_innen einer von anderen Disziplinen wie der Kunstgeschichte geführten Diskussion um die Bedeutung von Fotos; sie gestalten die Debatten um den iconic bzw. visual turn in den Geisteswissenschaften maßgeblich mit. Die Suche nach neuen Ansätzen zur Interpretation und Analyse visueller Produktionen unter Berücksichtigung ihrer Herstellungs- und Rezeptionskontexte stand im Mittelpunkt der vom Arbeitsbereich Fachjournalistik Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) organisierten Springschool “Frozen Moments in History”. In einem gemischten Programm aus Workshops, Vorträgen und Exkursionen diskutierten Nachwuchswissenschaftler_innen sowie Expert_innen der historischen Bildforschung und fotografischen Praxis anhand verschiedener Fotokonvolute und Kontexte den Erkenntniswert und Interpretationsmöglichkeiten historischer Fotografien für die kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschung.

Paul Lowe bei seiner Keynote: „Witness to Existence: Reflections on Life During Conflict 1989-1999“
In seiner Keynote veranschaulichte der mehrfach preisgekrönte Pressefotograf Paul Lowe (London College of Communication) seine fotojournalistischen Leitgedanken anhand einzelner Fotos vom Fall der Mauer und der Rumänischen Revolution in 1989, der Hungersnot in Somalia 1992, der Zerstörung von Grozny 1994/1995 sowie der Belagerung von Sarajevo 1992–1996. Aus journalistischer Perspektive bilde Fotografie ein einzigartiges Medium, um der Welt von den Erfahrungen der Bevölkerung in Krisengebieten zu berichten und damit – in Anlehnung an Butler – bisher unbekanntes Leid erst beklagbar („grievable“) zu machen. Als Fotograf strebe er daher danach, innerhalb eines Fotos wesentliche Elemente einzufangen, aus welchen sich eine Erzählung der Emotionen und Ereignisse vor Ort ergebe. Insbesondere suche er nach einer visuellen Sprache, um die menschliche Erfahrung politischer Konflikte sowie ihre zeitliche Dimension in Einzelfotos verdichtet zu vermitteln. Dass diese eigenen inhaltlichen und kompositionellen Überlegungen nur eine von vielen Deutungsmöglichkeiten eines Fotos darstellen und schon der Publikationskontext eine neue mit sich bringen kann, begreift er gerade als Chance für einen vielstimmigen Diskurs. In der anschließenden Diskussion um Tropen einer fotografischen Kriegsikonografie zeigte er ausgehend von seiner eigenen Erfahrung auf, dass sich motivische Muster und Wiederholungen vor allem ergeben, weil sich ähnliche historische Phänomene an verschiedenen Orten wiederkehrend ereignen.    

Im Mittelpunkt von Lowes Workshop stand die Visualisierung und Konzeptualisierung von Täter_innenschaft in Fotos britischer und US-amerikanischer Kriegsfotografen während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Einführend stellte er zwei zunächst motivisch ähnliche Fotos des bei der US Army akkreditierten Fotografen John Florea einander gegenüber. Sie zeigen jeweils die leicht schneebedeckte Leiche eines GIs und eines Wehrmachtsoldaten, welche beide in den Ardennen im Kampf ums Leben kamen. Ihren Tod aber inszenierte der Fotograf mit subtilen Mitteln, sodass – so zeichnete es sich in der Diskussion schnell ab – der Eindruck von würdevoller Totenruhe nur bei dem toten GI aufkommt. Wie ambivalent und abhängig von der Perspektive der Betrachter_innen das Verständnis von Opfer- und Täter_innenschaft sein kann, zeigt auch die Zusammenschau der Signal Corps Fotos von US Soldaten, welche die SS-Kampfgruppe Peiper bei Malmedy ermordet hatte, sowie von kriegsgefangenen Invaliden der Waffen-SS, welche GIs in Dachau exekutiert hatten. Während das Massaker von Malmedy als Trauma in die amerikanische Kriegsgeschichtsschreibung einging, sei das zweite Kriegsverbrechen nicht zuletzt von George S. Patton vertuscht worden. Die irritierende Unklarheit einer kategorischen Einordnung wiederholte sich auch bei einer Serie Mug Shot Portraits, welche ein britischer Fotograf von ehemaligem KZ-Personal und Überlebenden in Bergen Belsen nach der Befreiung aufgenommen hatte. Die personalisierende Funktion von Portraits lud uns Betrachter_innen dazu ein, in den Gesichtern nach Zeichen zu suchen, die eine Einordnung ermöglichen.

Katharina Stornig und Florian Hannig (beide JLU Gießen) stellten vor, wie in unterschiedlichen historischen Kontexten Fotos aus Westafrika dazu dienten, räumlich entfernten Betrachter_innen u.a. in Deutschland die Ereignisse vor Ort nahezubringen. Einerseits machte die Norddeutsche Missionsgesellschaft zwischen 1863 und 1865 in Südwest-Ghana Gruppenportraits von Kindern, welche sie mit privaten Spenden aus der Sklaverei freigekauft hatte, und schickte die Fotos an die Geldgeber. Der Fotograf Don McCullin hingegen wollte, dass seine Fotos des Unabhängigkeitskrieges in Biafra 1967 ihre Betrachter_innen „hart treffen“ (Zitat).

Workshop: „Making sense of historical photographs from distant Lands“ mit Katharina Stornig und Florian Hannig
Diese Funktionalisierungen der Fotos finden sich jeweils belegt in schriftlichen Quellen, welche direkt auf die Fotos Bezug nehmen und damit auch einen Einblick in ihre zeitgenössische Rezeption geben. Das Monatsblatt der Missionsgesellschaft lobte die „schweigenden und doch redenden Bilder“, da sie in ihren Augen von Erfolgen der Mission zeugten. Aus John Bergers Kommentar zu McCullins Fotos spricht hingegen Enttäuschung, dass die Fotos Betrachter_innen nicht zur Veränderung der Verhältnisse zu mobilisieren vermochten. Da die Kontroverse um die politischen Wirkungsmöglichkeiten von Fotografie im kritischen Diskurs eine lange Tradition hat, ergab sich im Plenum die Forderung, diese Diskussion ihrerseits zu historisieren.        

 

Die Fotografin und Künstlerin Lucie Marsmann (Bielefeld) gab den Teilnehmer_innen Einblicke in ihre kreative und persönliche Auseinandersetzung mit dem fotografischen Nachlass ihrer Großeltern Ulla und Willi. Beim Durchstöbern der privaten Fotos stieß sie auf ein sich wiederholendes Motiv: Ulla und Willi fotografierten sich gegenseitig oftmals am selben Ort und in derselben Pose. In ihrem Fotobuch “Ulla und Willi. Eine persönliche Darstellung von Familie und Beziehung(en)” arrangiert Marsmann die in den 1950er- bis 1980er-Jahren entstandenen Fotos ihrer Großeltern neu, kombiniert sie mit Fotos von Erinnerungsstücken und -orten und regt damit zur eingehenden Reflexion von Ullas und Willis Bildpraxis an. Die Fotografien dienten – so die Überlegungen der Künstlerin – wohl nicht nur der Produktion von Erinnerung sowie der persönlichen Selbstvergewisserung der Großeltern, sondern entfalteten auch eine stabilisierende Wirkung für deren Paarbeziehung. In der Diskussion zeigte sich, wie sehr der jeweilige Rezeptionskontext die Interpretation der privaten Fotografien bestimmt. Während im privaten sowie im künstlerischen Rezeptionsmodus die eigene Involviertheit der Betrachter_innen der Fotos stärker im Mittelpunkt steht und Aspekte der persönlichen Emotionalisierung reflektiert werden, evoziert ein wissenschaftlicher Lektüremodus Fragen nach dem gesellschaftlichen Kontext der Fotografien, ihren politischen Bezügen und ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Funktionen.

Im Zentrum des Workshops von Paul Betts (University of Oxford) standen Pressefotografien von Josip Broz Tito, die den jugoslawischen Staatschef während verschiedener Auslandsreisen durch Afrika zeigen. Nach dem Bruch mit Josef Stalin und der Loslösung Jugoslawiens von der Sowjetunion im Jahr 1948 war Tito als Initiator und späterer Vorsitzender der Blockfreien Staaten darum bemüht, eigene diplomatische Beziehungen – unter anderem zu den ehemaligen Kolonialstaaten in Afrika – aufzubauen. Die Pressefotografien von Titos Auslandsreisen spielten eine wesentliche Rolle im Rahmen der Kulturdiplomatie: Sie visualisierten die Beziehungen zwischen Jugoslawien und den neuen afrikanischen Ländern. Tito setzte in Hinblick auf seine Selbstinszenierung insbesondere auf kulturellen Austausch und Informalität: Er schlüpfte im Rahmen der Staatsbesuche mitunter in die traditionellen Gewänder des jeweiligen Landes und ließ sich mit den neuen Staatschefs häufig in privaten Settings und freundschaftlichen Posen fotografieren. Trotz der Bemühungen um einen neuen Stil der Repräsentation, der Egalität, Intimität und Volksnähe suggerieren sollte, scheinen viele der Pressefotografien einen kolonialen Blick zu reproduzieren. Insbesondere ein Foto, das während Titos Besuchs in Ghana im Jahr 1961 entstand, führte unter den Teilnehmer_innen zu regen Diskussionen. Das für die europäische Presse gedachte Bild zeigt den jugoslawischen Staatschef im weißen Anzug, auf einem weißen Podest stehend, umgeben von afrikanischen Diplomaten in dunklen Anzügen und einem Ghanaer in traditionell-gemusterter Kleidung, der hier einen übergroßen Sonnenschirm hält, um Tito Schatten zu spenden. Die Teilnehmer_innen gingen der Frage nach, inwiefern sich dieses Setting sowie die davon angefertigte Fotografie als Reproduktionen kolonialer Machtverhältnisse interpretieren lassen und spekulierten, wer dieses Setting wohl aus welchem Grund so gewählt hatte. Dieses Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeit – sowohl für die westlichen Länder, aber auch für die neuen afrikanischen Staaten selbst – eine neue visuelle Sprache zu finden, die sich nicht länger an bildlichen Konventionen des Kolonialismus orientiert.

In der Sektion für studentische Forschungsprojekte stellte zuerst Laura Busse (HU Berlin) vor, wie sie in Anlehnung an die serielle Ikonographie von Ulrike Pilarczyk anhand zweier Fotos – eines aus dem Kontext kolonialer Großwildjagd in British Eastafrica und eines von deutschen Wehrmachtssoldaten im Krieg gegen die Sowjetunion – den bislang lose verwendeten Topos der fotografischen Trophäe diskutiert und neu begründet. Zum einen betont sie die Notwendigkeit analytisch zu unterscheiden, inwiefern das Motiv – z.B. getötete Feinde – als Siegeszeichen fungiert oder das materielle Foto die Funktion des Siegeszeichens übernimmt, wenn „die Beute“ selbst nicht mehr vorliegt. Da zu dem zweiten Foto keine Kontextinformationen verfügbar sind, erarbeitet sie eine ausführliche Bildbeschreibung und -interpretation, um dennoch aus dem Fotos heraus Argumente zu entwickeln, wie motivische und kompositionelle Details zusammenwirken, sodass der Eindruck einer Trophäe – im Foto und als Foto – entsteht.

Das materielle Objekt und seine kulturellen Verwendungsformen standen ebenfalls für Ulrike Koppermann (JLU Gießen) im Vordergrund, als sie die Bedeutung des Fotoalbums als mediales Dispositiv für die Repräsentation historischer Kontexte untersuchte. Für ein Album, das die Fotografen des SS-Erkennungsdienstes des KZ Auschwitz im Sommer 1944 unter dem Titel „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ anfertigten, zeichnete sie anhand eines der transmedialen Narratologie entliehenen Modells nach, wie die Überlieferung der „Ungarn-Aktion“ durch mediale Spezifika eines Albums geformt wird.

Paul Betts bei seinem Workshop „Tito in Africa“
Sibylle Wuttke (Friedrich-Schiller-Universität Jena) stellte erste Quellenfunde aus ihrem Arbeitsbereich innerhalb des Forschungs- und Bildungsprojekt „Sozialismus im Bild. Visuelle Aneignung von DDR-Lebenswelten“ am Historischen Institut vor. Bei ihren Recherchen nach fotografischen Quellen zu alternativen Lebensentwürfen stellt sich zunächst die Herausforderung, wie die Sammlung zu organisieren wäre, um vom Material ausgehend tradierte Annahmen aufzubrechen. Zugleich wurde diskutiert, inwiefern der Begriff von „Alltagsfotografie“ nicht ein Paradox und fehlleitend sein kann, da der Alltag selten Thema der fotografischen Überlieferung ist und diese sich stattdessen auf besondere Anlässe konzentriert.

Ausgangspunkt von Benjamin Glöckler (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) und seiner Analyse der visuellen Konstruktion des Alterns zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren Kataloge mit den Gewinnerfotos zweier veranstalteter Wettbewerbe, die zur Einsendung „neuer Bilder des Alterns“ aufgerufen hatten. Glöckler zeigte auf, wie die Wettbewerbe angesichts des demografischen Wandels und der Restrukturierung des Sozialstaates seit den 1990er-Jahren darauf ausgerichtet waren, defizitäre Altersbilder zu überwinden und visuell ein Gegenbild zu schaffen: die „jungen Alten“ – aktiv, produktiv und autonom. Die Bildauswahl setzt damit normativ nun auch für alternde Menschen neoliberale, von Wirtschaft und Politik präferierte Subjektvorstellungen und suggeriert Alter als neue „Ressource“. In den Überschriften der Kataloge – u.a. „Generationsverhältnis“, „Herausforderungen und Endlichkeit“ oder „Aktivität im Alter“ – entfallen hingegen offenkundig Themen wie Einsamkeit, Altersarmut oder Tod. Bildpolitisch werden diese Lebensrealitäten ausgeschlossen.

Im Rahmen einer Exkursion nach Marburg besuchten die Teilnehmer_innen zwei Institutionen, die sich mit der Archivierung, wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie Vermittlung von Fotografien befassen. Im Bildarchiv des Herder Instituts für Ostmitteleuropaforschung bekamen die Teilnehmer_innen einen Einblick in verschiedene Bildbestände zur Topografie sowie Kunst- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas. Neben Architekturfotos stellten die Mitarbeiter_innen historische Schrägluftbilder der Ostgebiete des ehemaligen Deutschen Reiches, Dokumentaraufnahmen des polnischen Fotografen Stefan Arczyński und eine Reihe an Fotoalben vor. Insbesondere der fotografische Nachlass von Hermann Beyerlein, der als deutscher Postbeamter zwischen 1939 und 1944 im besetzten Warschau tätig war und in rund 300 Fotografien Eindrücke von der besetzten polnischen Hauptstadt festhielt, erweckte die Aufmerksamkeit der Teilnehmer_innen. Im Anschluss an die gemeinsame Diskussion der Archivalien veranschaulichte die hausinterne Fotografin den Prozess der Digitalisierung historischer Bildquellen und führte die Gruppe in die Kühlkammer, in der die Fotonegative gelagert werden. Abschließend erhielten die Teilnehmer_innen eine umfassende Einführung in die Systematik des digitalen Bildkataloges, wobei hier Fragen der Kategorisierung, Verschlagwortung und Verlinkung der Materialien im Zentrum der Diskussion standen.

Den Nachmittag verbrachte die Gruppe im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg der Philipps-Universität Marburg, das kunstgeschichtliche Dokumentarfotografien sowohl anfertigt, als auch sammelt, archiviert und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Nach einer kurzen Einführung in den Bildindex der Kunst und Architektur, einer Bilddatenbank, in der die Bestände von Foto Marburg erschlossen und online verfügbar gemacht werden, führte die Leiterin der fotografischen Sammlung Sonja Feßl die Teilnehmer_innen in das Depot, in dem Negative verschiedener Formate gelagert werden. Frau Feßl zeigte hier anhand von Glasnegativen die Aufnahme- und Bearbeitungstechniken frühester Fotografen_innen und machte deutlich, dass Nachbearbeitung und Retusche keinesfalls erst Erfindungen der digitalen Fotografie darstellen. Abschließend demonstrierte der hausinterne Fotograf den Digitalisierungsprozess von analogen Architekturfotos sowie die technischen Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung.

Exkursion zum Bildarchiv Foto Marburg
Den Abschluss der Spring School bildete der Workshop von Sylvia Necker (University of Nottingham) zu “Deutsch-Jüdischen Fotoalben als Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung”. Bereits der gewählte Titel des Workshops “Konkurrenz der Erzählungen oder: sehen, was gar nicht drauf ist” lud zur Reflexion eigener Forschungsperspektiven ein, unter denen wir die Fotos jeweils lesen. Schließlich bestimmt das Wissen um Deportation und Massenvernichtung von Juden und Jüdinnen während der nationalsozialistischen Herrschaft den Blick auf das Quellenmaterial maßgeblich mit. Privatfotografien von Juden und Jüdinnen fungieren insbesondere im Ausstellungskontext oftmals als direkter visueller Link zwischen Judentum und Holocaust und dies obwohl sie weder eine spezifische Form des Jüdisch-Seins zum Ausdruck bringen, noch die Diffamierung oder Ermordung von Juden und Jüdinnen zeigen. Auch als Forscher_innen sind wir nicht davor gefeit, die Fotos vor dem Hintergrundwissen um den Holocaust zu interpretieren und in ihnen Spuren von jüdischer Differenz zu suchen. Selbst die Benennung der Materialien als “jüdische Fotoalben” verschleiert die Tatsache, dass sich diese nicht per se als jüdisch klassifizieren lassen. Dennoch war der Erfahrungshorizont von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus ein fundamental anderer als jener von “Volksgenossen”, weshalb sich Fragen nach der Funktion von privater Fotografie für Angehörige einer Gruppe, die nicht zur “Volksgemeinschaft” gehörte, in anderer Weise stellen. Im Anschluss an Neckers Einführung wurden die Teilnehmner_innen dazu angehalten, selbst mit dem Quellenmaterial zu arbeiten und in Arbeitsgruppen jeweils ein Fotoalbum zu analysieren. Während der Gruppenarbeit wurde deutlich, dass verfügbare Kontextmaterialien nicht ausschließlich als methodischer Vorteil zu werten sind, versperren sie doch oftmals den Blick auf die Fotoalben. Ausgehend von diesem Befund diskutierten die Teilnehmer_innen über verschiedene methodische Herangehensweisen an das Bildmaterial und gingen der Frage nach, inwiefern hier Synergien zwischen Methoden der Kunstgeschichte (wie bspw. der seriellen Ikonografie) und Methoden der Geschichtswissenschaft (wie bspw. der dichten Kontextualisierung) fruchtbar gemacht werden können.

Wenngleich die vorgestellten Quellen grundverschieden waren und jeweils einer präzisen Kontextualisierung bedurften, wiederholten sich methodische Problemstellungen und Ansätze: Da visuelle Quellen Forscher_innen breitere Interpretationsmöglichkeiten bieten als schriftliche, fordern sie einmal mehr dazu auf, den Referenzrahmen und die Voraussetzungen der Lesarten zu reflektieren. Wertvoll, aber selten überliefert, sind dabei ergänzende Quellen, die über die zeitgenössische Rezeption Aufschluss bieten, sodass diese wiederum der eigenen gegenübergestellt werden kann. Als besondere Herausforderung stellten sich private Fotografien dar, bei denen das Verhältnis von zeithistorischem Kontext, persönlicher Biografie und fotografischer Praxis häufig uneindeutig bleibt. Demgegenüber bieten die Bildpresse zu Staatsbesuchen und Bildwettbewerbe Untersuchungsbeispiele dafür, wie visuelle Mittel im Interesse einer politischen Agenda eingesetzt und politisch gewollte Mitteilungen inszeniert werden. Erhellend für die historische Forschungsperspektive waren zudem die Ausführungen der Archivar_innen und Fotograf_innen, deren Wissen über fotografische Arbeitstechniken sowie Sammlungsgenese und -erschließung der Analyse und Recherche zu weiterer Präzision verhelfen kann. 

 

(09.04.2019, Jonas Feike)