Digitalisierung - Verheißung und Ernüchterung
Katrin Lehnen/Dorothée de Nève
Posted on Nov 22, 2018
Digitalisierung ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Handlungsbereichen geworden. Mit unserem Beitrag wollen wir unterschiedliche Facetten dieses schillernden Begriffs beleuchten, unterschiedliche Dimensionen der Digitalisierung und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren. Und Sie zur Diskussion einladen!
In der Wissenschaft verknüpfen sich unterschiedliche Ideen und Konzepte mit dem Begriff. Je nach Disziplin stehen soziale, gesellschaftspolitische, rechtliche, wirtschaftliche, pädagogische, linguistische, historische, kulturelle und/oder kognitive Aspekte im Vordergrund. Neben ihrer Relevanz als Thema und Gegenstand von Wissenschaft und Forschung ist Digitalisierung längst Medium wissenschaftlichen Handelns geworden und hat die Infrastrukturen und Daten wissenschaftlicher Erkenntnisbildung verändert. Digitale Forschungsinfrastrukturen (Datenbanken, Korpora, Digitalisate) und technologieunterstützte Verfahren der Sammlung, Aufbereitung, Automatisierung, Archivierung und Vernetzung von Daten führen zu anderen Möglichkeiten der Betrachtung und Erforschung disziplinenspezifischer Fragen (Lobin/Schneider/Witt 2018, Lobin 2018, 147ff.). Mit dem Begriff der Digitalisierung gehen damit neben der Untersuchung grundlegender, durch Digitalisierung angestoßener Entwicklungen und Veränderungen (z.B. veränderte Konzepte von Interaktivität) auch veränderte Methodologien einher, die sich auf das Wissenschaftsverständnis auswirken. Verändert haben sich dabei teilweise auch die Formen wissenschaftlicher Aushandlung (Gloning 2016, Fritz/Gloning 2011).
Digitalisierung – Gebrauchsmuster
In der Öffentlichkeit, vor allem der Politik, ist der Begriff der Digitalisierung Projektionsfläche und Verheißung für technologische und ökonomische Innovationen geworden. Digitalisierung wird in Deutschland dabei oft auf infrastrukturelle Aspekte reduziert, etwa auf die flächendeckende Breitbandversorgung mit Netzkapazitäten (Stadt vs. Land) oder auf die bessere Ausstattung von Schulen mit Hard- und Software (Schulen ans Netz). Digitalisierung bedeutet dann im Sinne der Daseinsvorsorge nicht viel mehr, als dass digitale Medien für alle jederzeit und zu gleichen Konditionen verfügbar werden. Quer durch fast alle Parteien und Parteiprogramme gilt Digitalisierung als Option für ökonomischen Erfolg und internationale Anschlussfähigkeit. Ein spezifischesVerständnis, was genauunter Digitalisierung verstanden wird und im Einzelnenmit ihr gemeint ist, wird nicht deutlich. So austauschbar, ja geradezu beliebig lesen sich Äußerungen und Statements von PolitikerInnen:
„Da ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass wir im industriellen Bereich, insbesondere im Mobilitätsbereich bei der Digitalisierung vorne mit dabei sind. Bei der Digitalisierung im Konsumentenbereich haben wir den Anschluss ja verloren. Da nutzen wir alle asiatische oder amerikanische Geräte; daran haben wir uns gewöhnt – okay. Das werden wir auch so schnell nicht aufholen” (Merkel 2018).
„Es kann nicht sein, dass wir immer nur in Sonntagsreden über die Digitalisierung und die Notwendigkeit der Qualifizierung im digitalen Wandel reden. Wir müssen auch die Kreativität aufbringen, das mit konkreten Maßnahmen zu unterlegen und in die Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu investieren” (Nahles 2018).
„Die Digitalisierung kann unser Leben einfacher, besser und sicherer machen. Und sie birgt die Chance, einen erheblichen Beitrag zur Sicherung unseres Wohlstands in der Zukunft zu leisten“ (Lindner 2018).
Digitalisierung erscheint in den hier gesammelten Zitaten wie ein eigener, merkwürdig abgekapselter Bereich. Digitalisierung macht das Leben einfacher, besser, sicherer, ökonomisch attraktiver. Sie bleibt damit Mittel zum Zweck und hat rein instrumentellen Charakter. Es ist vermutlich nicht Aufgabe der Politik, zu einem differenzierten Begriffsverständnis beizutragen. Dennoch bleibt Digitalisierung als Begriff und Konzept im politischen Gebrauch merkwürdig einseitig und verwaschen einerseits und wird zur Projektionsfläche für Heilsversprechungen andererseits. Dabei bleibt freilich der Zusammenhang von Digitalisierung, Sicherheit und Wohlstand angesichts politischer Krisen und Sicherheitslücken – um mit Facebook und dem US-amerikanischen Wahlkampf (Bots, Trolls) nur zwei Stichworte zu nennen – weitestgehend unreflektiert.
Mit dem Begriff der Digitalisierung bzw. den dahinterstehenden technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gehen hohe Erwartungen einher. Diese können auch – geradezu konträr zum populären Gebrauch in der Politik – in negativen Prophezeiungen und Drohszenarien Gestalt annehmen und zu ebenfalls einseitigen Zuschreibungen führen. Zum Beispiel im Bildungsbereich:
„Wir tun den Schülern keinen Gefallen, was ihre Gesundheit und ihre Bildung anbelangt, wenn wir Bildungseinrichtungen digitalisieren. Darüber müssen wir uns klar sein. Alles andere ist postfaktische Bildungspolitik. […] Ich sage, dass die Bildung schlechter wird, wenn Sie in der Schule mit digitalen Medien lernen. WLan im Klassenzimmer macht die Leistung um 18 Prozent schlechter, weil die Kinder mehr abgelenkt sind. Wenn Sie abgelenkteren Unterricht machen, werden die Schüler nicht schlauer“ (Spitzer 2018).
Digitalisierung wird hier tendenziell als etwas Externes, Hinzutretendes – ein Instrument, das man nutzen kann oder nicht - wahrgenommen. Folgt man Spitzers Darstellung, dann scheint noch völlig offen, ob wir Digitalisierung zulassen wollen oder nicht. Als handle es sich um eine Krankheit, die man (noch) wirkungsvoll bekämpfen kann. Durch eine Art Schutzimpfung, bei der man das Digitale einfach außen vorlässt. Während sich die Politik vom Virus infizieren lässt, warnt der Psychiater vor den Nebenwirkungen für SchülerInnen und lässt sich zu einer polemischen Zuspitzung wie jene der postfaktischen Bildungspolitik hinreißen. Da erscheint die exakte Zahl 18 („WLan im Klassenzimmer macht die Leistung um 18 Prozent schlechter“) und ihre unspezifische Begründung („weil die Kinder mehr abgelenkt sind“) einigermaßen fragwürdig. Und auch für diese Art von Skepsis gibt es ein verbreitetes Gegenmodell, das ebenfalls bei der Verallgemeinerung ansetzt. So etwa Gesche Joost, bis Juni 2018 Internetbeauftragte der Bundesregierung:
„Wir scheinen in Deutschland Angstdebatten zu lieben, wenn es zur Digitalisierung kommt. Hierzulande wird gerne und viel darüber geredet, wie gefährlich das Internet doch sei. Und soziale Medien werden sowieso verteufelt. Programmieren hat immer noch einen Nerd-Charakter. Wie soll man da in den Schulen Lust auf diese Themen machen? Wenn die Eltern in allen Zeitungen immer wieder lesen, wie furchtbar das Internet doch ist?“ (Joost 2018)
Stereotypen und Polemiken bestimmen die Zuschreibungspraxis: Was den Politikbereich oder öffentlichen Diskurs vielfach kennzeichnet, bleibt aber auch für andere Bereiche eine relevante Beobachtung. Was unter Digitalisierung verstanden wird und das, was andererseits mit ihr verbunden wird – Wirkungen, Möglichkeiten und Herausforderungen – variieren. Die Äußerung von Spitzer bildet mit Blick auf die Beschwörung von Gefahren der Digitalisierung eine Spitze des Eisbergs. Das Heilsversprechen und die stark technisch-infrastrukturelle Sicht auf Digitalisierungsfragen, die andererseits in der Politik häufig anzutreffen sind, bildet eine andere. Dazwischen stehen andere Bemühungen, z.B. das Bestreben, im Bereich der Bildung politische Initiativen mit medienspezifischen und mediendidaktischen Erfordernissen zusammenzubringen. Zu sehen ist das u.a. bei Tagungen, die dem bloßen Schlagwort der Digitalisierung den Wunsch nach inhaltlich orientierten und fachlich gesättigten Konzepten entgegensetzen:
„Aktuell wird das Thema Digitalisierung im Bildungsbereich in vielfältigen – auch politischen – Initiativen vorangetrieben. Dabei stehen häufig insbesondere infrastrukturelle Maßnahmen (die Entwicklung und Weiterentwicklung von Lerntechnologien, der Aufbau von Repositorien u.a.) im Vordergrund. Die Bereitstellung einer zeitgemäßen Infrastruktur stellt fraglos eine wichtige Vorbedingung für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien dar. Mindestens ebenso wichtig sind aber aus Sicht der Fachdidaktiken Maßnahmen, die auf die Entwicklung, Dokumentation und Dissemination fach- und mediendidaktischer Konzepte (Lernszenarien) zielen, die dafür benötigt werden, um digitale Werkzeuge in Schule und Hochschule didaktischadäquatfür die Vermittlung der fächerspezifischen Lerninhalte und Kompetenzen einzusetzen“ (Call for Papers: Digitale Innovationen und Kompetenzen in der Lehramtsausbildung. Universität Essen Duisburg,www.uni-due.de/la-digital2019)
Die folgenden Ausführungen entfalten einige Facetten von Digitalisierung. Wir fragen nach den jeweiligen Ideen und analytischen Potentialen, die sich mit dem Begriff und den dahinterstehenden Konzepten auftun.
Digitalisierung – Perspektiven auf ein Konzept
Konzepte von Digitalisierung bleiben häufig lose. Sie umfassen u.a. technische, ökonomische, rechtliche, soziale und kulturelle Facetten.
In einem ersten Zugriff sind es vor allem die technischen Dimensionen, die den Begriff der Digitalisierung und seine Geschichte kennzeichnen. Digitalisierung bedeutet zunächst eine andere Repräsentation von Daten und ihre computergestützte Verarbeitung:
„Prinzipiell bedeutet „Digitalisierung“ die binäre Repräsentation von Texten, Bildern, Tönen, Filmen sowie Eigenschaften physischer Objekte in Form von aneinandergereihten Sequenzen aus „1“ und „0“, die von heutigen Computern mit extrem hoher Geschwindigkeit – Milliarden von Befehlen pro Sekunde – verarbeitet werden können. Die Digitalisierung fungiert gewissermaßen wie ein „Universalübersetzer“, der die Daten unterschiedlicher Quellen für den Computer bearbeitbar macht und damit viele Möglichkeiten bereitstellen, die ansonsten undenkbar wären“ (Hippmann/Klingner/Leis 2018, 9).
Unter Digitalisierung lässt sich in Folge eine „(…) technologiebetriebene Veränderung aller Bereiche der menschlichen Gesellschaft (…)“ verstehen (Weber 2018, 3). Das innovative Moment dieser technischen Entwicklung besteht nicht nur darin, dass analoge in digitale Signale transformiert werden, was für die Speicherung und weitere Verarbeitung von Informationen ganz neue Möglichkeiten bietet (vgl. Herzig/Martin 2018, 89). Vielmehr verändern sich durch diese technischen Innovationen die Möglichkeiten der Erschließung, Nutzung und Distribution von Daten. Die Triebkräfte dieser technologiebetriebenen Veränderungen beschreibt Henning Lobin in drei Entwicklungsstufen: „Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung“ (Lobin 2014, 86). Sie sorgen für eine Beschleunigung und Verbreitung komplexer Datenmengen und -typen, die analog nicht zu leisten ist. Lobin spricht – in expliziter Abgrenzung zu dem, was zuvor Schriftkultur war – von einer Digitalkultur. Sie beruhe auf dem „digitalen Code“:
„Der digitale Code erlaubt das weitgehend fehlerfreie Kopieren und das Komprimieren von Daten. Darüber hinaus wurden durch die Digitalisierung und den Computer neue technische Möglichkeiten geschaffen, die die Digitalkultur prägen: die Automatisierung des Umgangs mit digitalen Daten, die ununterscheidbare Zusammenführung von Daten unterschiedlicher Art im digitalen Speicher und die Vernetzung von Computern“ (Lobin 2014, 211).
Die technischen Grundlagen der Digitalisierung bilden den Ausgangspunkt für vielfältige Prozesse der Entwicklung und des Wandels ökonomischer, rechtlicher, sozialer, sprachlicher, kultureller, politischer und bildungsbezogener Praktiken.
In Bezug auf die ökonomische und rechtliche Dimension der Digitalisierung sind Fragen der Bereitstellung und Verfügbarkeit von Ressourcen wie Technik, Knowhow und Zeit relevant. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Digitalisierung haben sich Erwartungen an die staatliche Daseinsvorsorge verändert. Dabei geht es nicht „nur“ – wie die gegenwärtige politische Debatte gelegentlich vermuten lässt – um die Versorgung mit Breitbandkabel und kostenloses WLAN im öffentlichen Raum, sondern um die Hervorbringung neuer und die Erschließung bestehender Märkte. Digitale und analoge Märkte verlieren an Trennschärfe. Oder, wie es die EU-Kommissarin für den Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, Elżbieta Bieńkowska, ausdrückt: „Digital- und Realwirtschaft sind nicht mehr zu trennen“ (Europäische Kommission 2016). Mit der Digitalisierung entstehen neue Güter und Marktwerte. Das sind u.a. die digitalisierten Daten selbst und die Daten der NutzerInnen digitalisierter Daten. Welche unterschiedlichen Interessen und Interessenskonflikte daraus entstehen können, ist in den letzten Jahren an verschiedenen Fällen, oft auch Skandalen, deutlich geworden. Ökonomische und rechtliche Dimensionen treten an Beispielen wie der Diskussion um Urheberrechte (Verlage, Bibliotheken) und der Vorratsdatenspeicherung zu Tage:
„Digitalisierung ist Wertversprechen, Geschäftsmodell, Architektur, Paradigma und Organisationsform gleichzeitig – dies erklärt, warum wir so gerne darüber reden aber in diesem Zuge dennoch so oft aneinander vorbeireden“ (Kellermann 2018).
Die Digitalisierung ist vor allem mit Blick auf ihre soziale Dimension augenfällig worden. Krabbes verwendet in diesem Kontext den Begriff der sozialen Digitalisierung (Krabbes 2017). Auch der Begriff der Kulturalität der Digitalisierung(Koch 2016, 7) erfasst, dass mit den technischen Entwicklungen weitreichende Veränderungen in der Anbahnung und Aushandlung sozialer Beziehungen einhergehen. Unter der Bedingung, dass Handlungskontexte und Räume zunehmend digital, d.h. virtuell und immateriell strukturiert sind und sich dabei in den letzten Jahrzehnten neue Formate der Kommunikation entfaltet haben (Facebook, Instagram, LinkedIn, Snapchat, Twitter, Xing etc.) entstehen potentiell andere Praktiken, die mit einem veränderten Habitus – einem digitalen Habitus – einhergehen. Ein zentrales Moment bildet außerdem die mit der Digitalisierung verbundene Selbstermächtigung von Personen, deren Rolle sich dank neuer technischer Möglichkeiten von RezipientInnen zu aktiven BürgerInnen wandelt.
Mit der Digitalisierung entstehen andere Räume der technischen und sozialen Vernetzung:
„Eine inzwischen unüberschaubare Vielfalt von Geräten und Anwendungen ermöglicht die Verschränkung unseres Handelns an konkreten Orten mit dem Handeln mit Anderen vermittels von Online-Kommunikation“ (Klemm/Staples/Wolter 2018, VII).
Die Digitalisierung hat insofern auch zu einer dynamischen Veränderung der Kommunikationskultur geführt, dies gilt sowohl für die Kommunikation in Institutionen wie Unternehmen, Parteien oder Hochschulen, als auch für die Interaktionen zwischen Gruppen und Individuen.
„Mit den strukturellen Besonderheiten der Digitalität ändern sich […] auch die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, insbesondere auch unsere kommunikative kulturelle, wirtschaftliche oder politische Partizipation […]“. (Einspänner-Pflock/Dang-Anh/Thimm 2014, 7).
Offen bleibt die Frage, inwiefern sich die Kommunikationskultur zwischen digital Natives und digital Immigrants substanziell unterscheiden. Digitale Kommunikation ist jedenfalls integraler Bestandteil (jeglicher) strategischer, interaktiver und produktiver Prozesse. Dabei geht es beispielsweise um eine digitale Profilbildung, die es AkteurInnen erlaubt, anonym zu kommunizieren und/oder ihre Identität selbstbestimmt zu konstruieren (Asenbaum 2017, 5). Eine zentrale Rolle spielen darüber hinaus Veränderungen der Feedbackkultur und der (unmittelbaren) Feedback- und Anerkennungserwartungen. Im Kontext der rapiden technischen Entwicklungen entstehen so einerseits Räume für Innovationen und Experimente, andererseits etablieren sich auch schnell neue normative Regeln für eine angemessene, korrekte Kommunikation, die sich etwa in Netiquetten oder NutzerInnenverträgen wieder finden, bis hin zu Versuchen der Kontrolle und Sanktionierung (vermeintlich) unangemessener Kommunikationsinhalte und -kulturen (Nocun 2017).
Digitalisierung – Wirkungen, Folgen, Befürchtungen
Die Verwendung von Informationstechnologie in Alltagsgegenständen wird als die Revolution des 21. Jahrhunderts wahrgenommen (vgl. Golz 2003, 2). Auch wenn die oben beschriebenen Entwicklungen kein Neuland sind, sondern sich über eine lange Zeit dynamisch (weiter-)entwickelt haben – von der Massenproduktion (Industrie 1.0), über die industrielle Produktion (Industrie 2.0) und Automatisierung (Industrie 3.0) bis hin zur Digitalisierung (Industrie 4.0) – werden die Folgen unterschiedlich abgesehen und kontrovers diskutiert. Anders als eingangs beschriebene, in der politischen Diskussion dominierende instrumentelle Verständnis von Digitalisierung werden im wissenschaftlichen Diskurs Wirkungen mit Blick auf die grundlegenden und tiefgreifenden Veränderungen im Denken und Handeln beschrieben. Nicht selten wird dabei für die gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen der Begriff der Revolution bemüht (Krabel 2016, 2, vgl. Irion/Ruber/Schneider 2018, 41), um zu verdeutlichen, dass es sich um einen ebenso abrupten, wie nachhaltigen Strukturwandel handelt:
„Wahrscheinlich ist die auf den Möglichkeiten des Computers aufbauende Digitalisierung der Welt in ihren Wirkungen auf die Gesellschaft ähnlich revolutionär, wie es der Buchdruck für die Entstehung der modernen Welt war” (Nassehi 2017, 75).
Und ähnlich wie im Kontext früherer großer technischer Innovationen wird kritisch reflektiert, wie Menschen mit diesen umfassenden Veränderungen souverän umgehen können und sollen (vgl. Reinnarth 2018, 39). Digitalisierung ist so betrachtet häufig an normative Erwartungen geknüpft bzw. ein Feld normativer Aushandlung.
Die auf technischen Entwicklungen basierenden Veränderungen, so wie sie weiter oben beschrieben wurden, zeigen, dass diese Veränderungen unmittelbar mit anderen Veränderungen verknüpft sind: Digitalisierung bedeutet mehr als ein veränderter Daten-Standard. Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung, so wie sie Lobin als „Triebkräfte“ der Digitalkultur beschreibt, sind nicht einfach Beschleuniger bestehender Prozesse, sie verändern die Hervorbringung, Darstellung und Nutzung von Daten qualitativ, d.h. vor allem die Art unseres alltäglichen Umgangs mit Daten. Dies gilt zum Beispiel für die Frage, wie wir lesen und wie wir schreiben und wir das kognitiv bewältigen.
„Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, und wenn sich die technischen Voraussetzungen verändern, verändert sich auch das Lesen und Schreiben selbst. Wir lesen und schreiben anders, wenn es hybrid, multimedial und sozial geschieht – was wir lesen, nehmen wir anders auf, was wir schreiben, sieht anders aus und ist anders aufgebaut. Neben den institutionellen Veränderungen nach dem Ende der Schriftkultur wird es deshalb auch Veränderungen in jedem Einzelnen von uns geben. Unsere Gehirne passen sich den Bedingungen des digitalen Lesens und Schreibens an, schriftliche Informationen werden kognitiv anders verarbeitet und gespeichert, werden uns ganz anders prägen. Unser Denken erfährt eine Kolonisierung durch den Computer und die digitale Schrift, wo wie es früher durch das Buch mit seiner gedruckten Schrift kolonisiert war“ (Lobin 2014, 20).
Angenommen wird, dass die Digitalisierung als Innovationsstrategie bzw. -kultur letztlich zu „(…) einem neuen „digitalen Weltbild“ für die digitale Gesellschaft (…)“ (Weber 2018, 6) führen wird. Nicht nur die Disponibilität von Informationen und die Kommunikation verändern sich, erwartbar sind vielmehr, so Weber, „(…) auch Veränderungen der menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen Handelns (…)“ (Weber 2018, 6).
Offen ist, wie Veränderungen bewertet werden. Der Begriff Digitalisierung erscheint dabei fast wie ein Reizwort und löst abwechselnd Euphorie und Ängste aus. Zugespitzt formuliert, steht zur Disposition, ob diese Innovationen eher zu Optimierungen führen oder aber mit fragwürdigen Tendenzen der (Selbst-)Optimierung einhergehen, die eine vermeintliche Effizienzsteigerung erzielen, gleichzeitig jedoch unerwünschte bzw. erhebliche Nebenwirkungen bedingen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Debatten um gläserne PatientInnen. Das schließt grundlegende Fragen nach Autonomie, Selbstbestimmung und Partizipation ein, und zwar in dem Wissen oder der Befürchtung, dass die Herrschaft über diese technischen Entwicklungen weitgehend verloren geht und an die Technik bzw. indirekt an kommerzielle Akteure abgegeben wird. Während kognitive Prozesse irgendeiner Art bislang an das menschliche Gehirn gebunden waren, sind nunmehr vernetzte Computer und ihre Programme in der Lage, intelligentes menschliches Verhalten zu simulieren. Damit, konstatiert Lobin, habe der der Mensch diese seine letzte Exklusivität verloren (Lobin 2017, 220ff.).
Mit der Digitalisierung verbindet sich die Hoffnung, verkrustete Strukturen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aufzubrechen. Dies gilt sowohl für die hierarchischen und veralteten Strukturen in Bildungseinrichtungen und -prozessen, als auch für die ineffiziente, überbürokratisierte Verwaltung, die intransparente Politik der Hinterzimmer bis hin zum Aufbrechen sozialer Kontrollen und Grenzen (Weber 2018, 7). In einem weitreichenden Sinne sind davon auch das Demokratieverständnis (Asenbaum 2017) sowie die Forderungen nach mehr und konstanter Teilhabe betroffen.
Mit unserem Beitrag wollten wir unterschiedliche Facetten des Digitalisierungsbegriffs und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren. Dabei handelt es sich um einen offenen Denkprozess der (Selbst-)Klärung, der zweifellos weiterer Reflexionen und Debatten bedarf. Insbesondere gilt es für uns, einen interdisziplinären Zugang zu erschließen, der auch den omnipräsenten ideologischen Balast übertriebener Verheißungserwartungen und apokalyptischer Zukunftsszenarien abwirft.
Literatur
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