Sektion I
Wissenskulturen, Erinnerungen und Identität
Kultur besteht wesentlich in der medial spezifischen und historisch geprägten Erzeugung wie Tradierung von Wissen und Erfahrung, welche als Reservoir von Langzeitüberzeugungen kurzfristige Entscheidungen perspektivieren. Das tradierte Wissen dient der Gegenwart zur Überprüfung und Kritik, zur Selbstvergewisserung der eigenen Herkunft und zur Ausrichtung in eine Zukunft. Wissenskulturen werden dabei sowohl als analytische Perspektive auf die Wissensproduktion und -weitergabe einer Gesellschaft als auch im Sinne einer historisch-deskriptiven Kategorie in der Wissenschaft intensiv diskutiert. Sie stehen in einem dynamischen Kontext des Erinnerns und Vergessens, womit Rahmenbedingungen für die Entstehung, Speicherung und Aneignung von Wissen gesetzt werden. Hier handelt es sich historisch um einen transnationalen Prozess mit nationalspezifischen Mechanismen der Aneignung und Erinnerung. Auf individueller Ebene lässt sich dieser Prozess auch als Ausgleich von subjektiver und kollektiver Erinnerung modellieren. In der Sektion werden historisch die transnationale Dimension von Wissenskulturen, Transferprozessen und das Wandern von Konzepten untersucht, wobei vereinfachte Schemata eines „West-Ost-Transfers“ kritisch analysiert werden. Linguistisch wird der Ausgleich von individueller und kollektiver Wissenskultur etwa am Beispiel kollektiver Narrationen untersucht.
Dazu gehört auch die fortgesetzte Analyse von Erinnerung und „Erinnerungskulturen“: Dieses Thema bildete in den letzten 20 Jahren einen Schwerpunkt der Forschung, nicht zuletzt ausgelöst durch gesellschaftliche Debatten um Erinnerung (vgl. die Arbeit des Gießener SFB Erinnerungskulturen 1997-2008). Theorie und Praxis kollektiver Erinnerung wurden intensiv analysiert, Prozesse des Vergessens durch Medienwechsel oder Traditionsbrüche allerdings nicht immer angemessen berücksichtigt. Gerade im Zusammenhang des östlichen Europa gibt es hier nach wie vor wenig erforschte Bereiche, die in der Sektion bearbeitet werden.
Wissens- und Erinnerungskulturen können in kollektive Identitäten münden, die vielfach auf dem Weg von Selbst- oder Fremdzuweisungen entwickelt und in realen oder imaginierten Konflikten verfestigt werden. In der Sektion werden kulturelle, religiöse, sprachliche und nationale Identitätsdiskurse im östlichen Europa vom Mittelalter bis zur Gegenwart analysiert.
Sektionsleiter:
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg