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Kapitalismus und unsichere Positionen von Minderheiten. Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus durch die Brille materialistischer Kritik betrachtet (DE/ENG)

Workshop am 4. und 5. November an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Rahmen des SFB "Dynamiken der Sicherheit", des Politische Theorie Kolloquiums und der GGS Sektion "Menschenrechte und Demokratie".

 

Mit Beiträgen von Christine Achinger | Francesco Arman | Randi Becker | Floris Biskamp | Martin Dornis | Lukas Egger | Magdalena Freckmann | Felix Kronau | Ulrike Marz | Tobias Neuburger | Anne Peiter | Helge Petersen | Jill Pöggel | Julian Prugger | Jan Rickermann | Leo Roepert | Roman Thurn | Stefan Vennmann | Moritz Zeiler
 
 
Organisation: Dr. Laura Soréna Tittel | Anna-Sophie Schönfelder | Max Waibel |
Hannes Kaufmann | Prof. Regina Kreide
 
Programm:
 
 
Um Anmeldung bis zum 28.10.2024 wird gebeten an: anna-sophie.schoenfelder[at]sowi.uni-giessen.de

 

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Mit öffentlicher Keynote am 4.11.2024 um 18:30 Uhr

Ulrike Marz:
Materialismus und Psychologie: Bezugspunkte einer Kritischen Theorie des Rassismus

Mit der Kritischen Theorie wurde Anfang der 1930er Jahre, wie Christian Voller jüngst schrieb, eine „originelle Form des historischen Materialismus“ (Voller 2023) begründet. Die Kritische Theorie um Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse nimmt ihren Ausgang mit Marx/Engels bei den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, deren Vorstellung vom Kapitalismus als sozialem Verhältnis und orientiert sich an deren Ideologiekritik und dem Entfremdungskonzept. Sie übernimmt von Georg Lukács dessen Vorstellung einer gesellschaftlichen Totalität, die als von der Warenform vollständig usurpiert betrachtet wird sowie dessen Begriff der Verdinglichung. Die frühe Kritische Theorie weist allerdings die teleologische Ausrichtung „des Marxismus“ und die Vorstellung eines revolutionären Subjekts, das sich in der Arbeiter*innenklasse finden ließe nicht erst vor dem Hintergrund der problemlosen Einspannung der proletarischen Massen in den Nationalsozialismus vehement zurück.

Warum schließen sich Menschen antidemokratischen Bewegungen an? Was unterscheidet die für menschenfeindliche Propaganda Empfänglichen von den Immunen? Welche Menschen sind in besonderer Weise ansprechbar für Faschismus und Antisemitismus? Diese (bis heute dringlichen) Fragen, die die Studien zum autoritären Charakter antrieben (Adorno u.a. 1950; Adorno 1973), lassen sich allein mit materialistischen, insbesondere ideologiekritischen Zugängen nicht hinreichend beantworten. Grund für die spätere Aufnahme von Psychoanalyse war, so Horkheimer/ Adorno, „der Widerspruch zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik […], für die sie sich enthusiastisch einspannen ließen“ (Horkheimer/ Adorno 1957). Weil sich im Spätkapitalismus Entscheidendes der Vergesellschaftung im Subjekt abspielt (rezipiert wird hier keineswegs ein plattes Basis-Überbau-Modell), wird für Kritische Theorie deshalb auch die Psychologie – insbesondere die Freud‘sche Psychoanalyse – zu einem zentralen theoretischen Referenzpunkt.

Dieses Amalgam aus Marx und Freud, gesellschaftstheoretischem Objektivismus und psychoanalytischer Innenschau, wird also ab den 1930er Jahren das Signum Kritischer Theorie. Während die frühe Kritische Theorie ihre Analysen auf die Kritik des Antisemitismus fokussierte, blieb der Rassismus als eigenständiges Phänomen für eine kritisch-theoretische Perspektive allerdings unterbestimmt. Im Vortrag soll gezeigt werden, dass die beiden zentralen Referenzen – Materialismus und Psychologie – auch für eine Analyse und Kritik des Rassismus wichtig bleiben. Denn die Vermittlung von materialistischer Ideologiekritik und der Psychoanalyse – in Anerkennung ihrer jeweiligen Grenzen – trägt zum Verständnis des Rassismus in seinen heutigen Formen bei.

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Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W./ Frenkel-Brunswik, Else/ Levinson, Daniel/ Sanford, R. Nevitt (1950 [1993]): The Authoritarian Personality. New York/ London: W.W. Norton & Company.
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W. (1957): Vorrede: Freud in der Gegenwart. Ein Vortragszyklus der Universitäten Frankfurt und Heidelberg zum hundertsten Geburtstag. Frankfurt am Main: EVA. S. IX-XVI.
Voller, Christian (2022): In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie. Berlin: Matthes & Seitz.

 

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Workshopinhalt:

Minderheiten stehen in der Theoriebildung zu sozialer Marginalisierung und Exklusion in doppelter Hinsicht auf unsicheren Positionen: Zum einen ist die tatsächliche Unsicherheit ihrer Positionen in der Gesellschaft Ausgangspunkt und zu erklärendes Phänomen für die Forschung. Zum anderen sind Minderheiten aber auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung unsicher situiert. Der Workshop nimmt theoretische Ansätze in den Fokus, die Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus vor dem Hintergrund kapitalistischer Dynamiken analysieren. Eine Stärke solcher Ansätze ist ihr Anspruch, die unsicheren Positionen von Minderheiten im Kontext materieller, gesellschaftlicher Strukturen zu erklären, statt sie allein auf Vorurteile zurückzuführen. So kann sichtbar gemacht werden, wie die ideologische Verortung von Minderheiten an jeweils spezifischen Positionen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, etwa als „ausbeutbarer Schwarzer”, „rückständige Muslima“, „geldgieriger Jude“ oder „bettelnde Zigeunerin“, legitimiert, dass Menschen den Zwängen der Kapitalverwertung zu ungleichen Bedingungen ausgesetzt sind. Allerdings fällt an aktuellen Entwicklungen in der kapitalismuskritischen Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus auf, dass die Analysen der verschiedenen Ideologien weitgehend isoliert verlaufen, sie für die jeweils anderen Ideologien blind werden oder diese sogar reproduzieren. Denn allzu leicht wird übersehen, dass sich Angehörige aller Minderheiten in prekären und unsicheren gesellschaftlichen Positionen befinden können.

Der Workshop soll eine konstruktive Gegendynamik erzeugen, indem er ein Forum für Diskussionen darüber schafft, inwiefern verschiedene kapitalismuskritische Theorien der Marginalisierung und Exklusion von Minderheiten sich gegenseitig bereichern können. Um dem Antisemitismus, dem Rassismus und dem Antiziganismus als je eigener Herrschafts- und Ideologieform gerecht zu werden, bedarf es zwar ihrer separaten Untersuchung. Zugleich ist jedoch auch die Zusammenschau notwendig, um ihre Unterschiede herauszuarbeiten und in Beziehung zum Kapitalismus zu setzen. Das Vorhaben ist also komplex. Umso mehr wären die drei Forschungsfelder angehalten, die methodischen Prämissen und Erkenntnisse der je anderen nachzuvollziehen.
Das epistemologische Potential einer solchen gegenseitigen Bereicherung wird bislang jedoch kaum genutzt. In den meisten Beiträgen zu Racial Capitalism, die das Augenmerk auf konkrete soziale Hierarchien und deren Auswirkungen auf die materiellen Lebensbedingungen Rassifizierter legen, taucht das Thema Antisemitismus nicht auf. Teilweise bedienen sich simplifizierte Erklärungen des Racial Capitalism sogar antisemitischer Stereotype. Daneben gibt es Antisemitismus-Forscher*innen, die etwa im Anschluss an die ältere Kritische Theorie versuchen, ihren Gegenstand aus der kapitalistischen Vergesellschaftung heraus zu verstehen und ihn auf eine fehlgeleitete, personifizierte Kapitalismuskritik zurückführen. Rassistisch strukturierte soziale Ungleichheit bleibt hierbei häufig unterbelichtet. Im Schatten dieser Diskussionen steht als relativ junges Sachgebiet die materialistische Antiziganismusforschung. Hier sind im deutschsprachigen Raum sowohl Perspektiven der subjekttheoretischen Analyse des Antisemitismus als auch der Kapitalismuskritik nach Marx eingeflossen. Solche Theorien des Antiziganismus ergänzen anthropologische und vorurteilsbezogene Herangehensweisen, sind jedoch bisher wenig ausgebaut.

Im Workshop soll herausgearbeitet werden, auf welche Weise kapitalistische Akkumulations- und Subjektivierungsformen berücksichtigt werden müssen, um den Besonderheiten von Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus in der Theoriebildung gerecht zu werden.

Datum:

4. und 5. November 2024

 

Ort:

Justus-Liebig-Universität Gießen

Margarete-Bieber-Saal, Ludwigstraße 34,
35390 Gießen

 

Hier finden Sie den Call for Papers für den Workshop.