Die Ernährungsökologie
Die Ernährungsökologie ist ein Wissenschaftsgebiet, das seit den 1980er Jahren an der Justus-Liebig-Universität Gießen in der Arbeitsgruppe Ernährungsökologie in Forschung und Lehre angewendet wird.
Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Ernährung neben dem Zusammenhang mit Gesundheit zusätzlich in den Dimensionen Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft betrachtet wird.
Üblicherweise steht die gesundheitliche Sicht im Vordergrund, wenn ernährungswissenschaftliche Themenstellungen untersucht werden, wie z. B. Auswirkungen von Ernährungsverhalten, Entwicklung von Ernährungsempfehlungen oder Lösungsansätze für Ernährungsprobleme.
Die weiteren Dimensionen finden dagegen häufig keine oder nur eine unzureichende Beachtung. Wird z.B. die Empfehlung herausgegeben, fünf Portionen Gemüse und Obst pro Tag zu essen, so passiert dies vor einem gesundheitsbezogenen Hintergrund. Es gilt aber auch zu untersuchen, welche Auswirkungen die Umsetzung einer solchen Empfehlung auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sowohl regional als auch global haben kann. Diese Lücke wird durch die Ernährungsökologie geschlossen, indem die verschiedenen Dimensionen der Ernährung sowie die vernetzten Wirkungen und Rückwirkungen innerhalb des komplexen Systems Ernährung untersucht und dargestellt werden.
Mit dieser umfassenden Betrachtung der Ernährung wird ein Erkenntnisgewinn zur Lösung solcher Ernährungsprobleme angestrebt, die unter ausschließlicher Erwägung unvernetzter Ursachen-Wirkungsbeziehungen nicht oder nur unzulänglich gelöst werden können.
Historie der Ernährungsökologie
Die Ernährungsökologie ist ein relativ neues Wissenschaftsgebiet innerhalb der Ökotrophologie bzw. der Ernährungswissenschaft. Die Gründung der Ernährungsökologie geht auf langjährige studentische Initiativen an der Universität Gießen zurück. Seit Mitte der 1970er Jahre beschäftigten sich einige Studierende der Ernährungswissenschaft aus Unzufriedenheit mit dem vorwiegend physiologisch, biochemisch und technologisch ausgerichteten Lehrangebot in studentischen Arbeitskreisen mit alternativen Ernährungsrichtungen sowie ökologischen und sozialen Fragen. Hintergründe waren die Umweltbewegung sowie die entwicklungspolitische Bewegung. In den Jahren danach entstand auf der Basis von zwei Diplomarbeiten die erste Fassung der „Gießener Konzeption der Vollwert-Ernährung“, die 1981 in Buchform veröffentlicht wurde (v. Koerber, Männle, Leitzmann: Vollwert-Ernährung, Haug Verlag, Heidelberg).
Anfang der 1980er Jahre erfolgten in Gießen Vereinsgründungen, um diese ganzheitliche Ernährungskonzeption weiter zu entwickeln und nach außen in die Verbraucheraufklärung einzubringen: die „Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Ökotrophologie eukos e. V.“ sowie der „Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung - UGB e. V.“.
Seit 1986 gab es Bestrebungen, an der Universität Gießen ein neues Fachgebiet zur Erforschung dieser komplexen Zusammenhänge im Bereich der Ernährung des Menschen aufzubauen und dafür die Einrichtung einer eigenständigen Professur zu fordern. Initiator war der „Studentische Arbeitskreis Ernährungsökologie“, der seitdem jedes Semester eine Vortragsreihe organisiert. Von Seiten des Instituts für Ernährungswissenschaft wurde dieses Vorhaben v. a. von Prof. Dr. Claus Leitzmann, der den Begriff „Ernährungsökologie“ prägte, und von Dr. Karl von Koerber unterstützt. Eine 'Professur für Ernährungsökologie' wurde bereits 1987 vom Fachbereichsrat in das neue Strukturkonzept integriert.
Ein erster Erfolg war im Jahr 1989, dass die Universität für das Fachgebiet Ernährungsökologie eine Halbtagsstelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter einrichtete, die mit Dr. Karl von Koerber besetzt wurde. Seitdem konnte mit dem Aufbau des Wissenschaftsgebiets Ernährungsökologie auch von Seiten des Instituts für Ernährungswissenschaft innerhalb der Arbeitsgruppe von Prof. Leitzmann begonnen werden. Am Anfang stand eine Arbeitstagung mit etwa 40 ExpertInnen u. a. aus den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft, Ökologie, Medizin und Pädagogik. Ziel war die Vorstellung der Konzeption Ernährungsökologie vor Beginn des Lehrangebots sowie deren Beratung, Ergänzung und Konkretisierung durch Kooperationsangebote.
Das Lehrangebot bestand aus einem fortlaufenden zweistündigen Seminar, teilweise mit auswärtigen ReferentInnen. Die Schwerpunktthemen wechselten jedes Semester, z. B.
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Lebensmittelqualität
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Ernährungsverhalten
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EU-Binnenmarkt
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Fast Food
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Convenience Food
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'Zukunftstechnologien' im Ernährungsbereich
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Biokost-Vermarktung
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Trinkwasser
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Alternative Ernährungsrichtungen.
Weiterhin gab es Vorlesungen und Seminare zur Ökotoxikologie (Lehrbeauftragter: Prof. Dr. Volker Mersch-Sundermann, Universität Heidelberg/Mannheim). Das kontinuierliche Lehrangebot wurde ergänzt durch Gastvorträge und Wochenend-Blockseminare, z. B.:
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Bio- und Gentechnologie
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Lebensmittelbestrahlung
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Lebensmittelqualität
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Schadstoffe
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Pseudo-Bio-Produkte
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Umweltpolitik
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Verkehrspolitik
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Klimarelevanz der Ernährung.
Schließlich gab es jedes Semester 1–2 Exkursionen zur Lebensmittel verarbeitenden Industrie, besonders im Bereich Öko-Lebensmittel/Naturkost/Reformwaren sowie zu Kliniken, Tagungen, Messen usw.
Die Forschungsaktivitäten in Form von Diplom- und Doktorarbeiten erfolgten u. a. zu den Themen Umwelt- und Sozialverträglichkeit der Ernährung, Gentechnologie, Aromastoffe, alternative Ernährungsrichtungen, Umsetzung der Ernährungsökologie. Des Weiteren gab es zahlreiche Kooperationen, z. B. mit Institutionen der Ernährungsberatung, Umwelt-Forschungsinstituten, Verbänden des Ökolandbaus usw.
Da die Mitarbeiterstelle nach fünf Jahren infolge Geldmangels leider nicht mehr neu besetzt werden konnte, erklärte sich erfreulicherweise die Eden-Stiftung in Bad Soden bereit, die Finanzierung einer Mitarbeiterstelle für die Ernährungsökologie zu übernehmen – neben Zuschüssen für die laufenden Kosten.
Bezüglich der Einrichtung einer Professur für Ernährungsökologie erfolgten intensive Bemühungen bei den zuständigen Hessischen Ministerien sowie den Landtagsfraktionen von SPD und GRÜNEN. Anlässlich der rot-grünen Koalitionsvereinbarungen nach den Landtagswahlen 1991 wurde die grundsätzliche Bereitschaft hierfür erreicht, zumal beide Parteien die „Ökologisierung der Wissenschaft“ vorantreiben wollten. Jedoch scheiterte die Umsetzung unerwartet an der Finanzierung, da nach der 'Wende' in der DDR der größte Teil des Wissenschaftsetats zum Aufbau der Wissenschaftsstruktur in die neuen Bundesländer floss. Aus diesem Grunde gingen die Bestrebungen dahin, eine Stiftung für dieses Vorhaben zu finden. So gelang es Anfang 1993, vor allem dank der Bemühungen von Prof. Leitzmann, die Eden-Stiftung und die Werner-und-Elisabeth-Kollath-Stiftung zur Finanzierung einer auf sechs Jahre befristeten Stiftungsprofessur zu gewinnen.
Es schlossen sich eine eineinhalbjährige Phase der Vertragsverhandlungen zwischen den Stiftern, der Universität Gießen und dem Hessischen Wissenschaftsministerium sowie weitere eineinhalb Jahre des Berufungsverfahrens an. Bedauerlicherweise scheiterte jedoch Anfang 1996 die Besetzung der Professur Ernährungsökologie, da beide Kandidaten auf der Liste nicht mehr für eine Berufung in Frage kamen.
Um die Aktivitäten in Gießen bis zu einer erneuten Ausschreibung weiter aufrecht zu erhalten bzw. um diese weiter auszubauen, entschied sich die Eden-Stiftung abermals für eine finanzielle Unterstützung. Es wurde für knapp vier Jahre, d. h. bis Ende März 2000, eine Vollzeitstelle für eine wissenschaftliche Mitarbeiterin (einschließlich einer gewissen Ausstattung) geschaffen, die mit Dr. Ingrid Hoffmann besetzt wurde. Zusätzlich förderte die Stoll-VITA-Stiftung in Waldshut unterschiedliche (Forschungs-)Aktivitäten. Forschungsschwerpunkte – aufgeteilt nach den vier Dimensionen der Ernährungsökologie – während dieser Zeit waren:
- Gesundheit: Gegenüberstellung der Gießener Vollwert-Ernährungs-Studie, der Gießener Rohkost-Studie und der Deutschen Vegan-Studie mit dem Ziel, die Auswirkungen von verschiedenen Ernährungsweisen auf den Gesundheits- und Ernährungsstatus zu untersuchen
- Umwelt: Untersuchung verschiedener Ernährungsgewohnheiten und einzelner Bereiche des Ernährungssystems (Erzeugung, Verarbeitung, Handel, Verbrauch/Haushalt) bezüglich der ökologischen Wirkung anhand der Indikatoren Primärenergie, CO2- und SO2-Äquivalente
- Gesellschaft: Zusammenstellung von Aspekten, die die soziale Dimension der Ernährung beschreiben, und Entwicklung von Kriterien zur Bewertung der Sozialverträglichkeit der Ernährung
- Wirtschaft: Zusammenstellung von negativen externen Kosten im Ernährungssektor.
Im Rahmen der Lehre fanden weiterhin ein fortlaufendes Seminar, Blockseminare und Exkursionen statt. Während im Wintersemester die Grundlagen der Ernährungsökologie auf dem Programm standen, wurden im Sommersemester verschiedene ernährungsökologische Themenschwerpunkte angeboten. Beispiele dafür sind:
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Die Dimension Zeit in der Ernährung
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Trends in der Ernährung
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Ernährungsverhalten – Motive und Konsequenzen
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Frauen & Männer und Ernährung.
Im Jahr 2001 erfolgte eine erneute Ausschreibung der Stiftungsprofessur Ernährungsökologie. Seit dem 1. September 2003 hat Prof. Dr. Ingrid Hoffmann diese Professur inne. Sie ist am Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen angesiedelt und wird von der EDEN-, der Elisabeth-und-Werner-Kollath- sowie der Stoll VITA-Stiftung für 6 Jahre finanziert. Damit ist dieses relativ neue Wissenschaftsgebiet innerhalb der Ökotrophologie bzw. der Ernährungswissenschaft erstmals mit einer Professur vertreten. Außerdem werden an anderen deutschsprachigen Hochschulen entsprechende Lehrveranstaltungen angeboten (Fachhochschule Fulda, Technische Universität München/Weihenstephan, Universität Gesamthochschule Kassel/Witzenhausen, Fachhochschule Münster, Fachhochschule Weihenstephan/Triesdorf, Universität Wien).
Vor allem während der Zeit der Professur Ernährungsökologie von Prof. Ingrid Hoffmann wurde in dem recht neuen Wissenschaftsgebiet Aufbauarbeit geleistet, indem die einzelnen Dimensionen der Ernährung (Gesundheit, Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft) beschrieben und untersucht wurden. So wurden beispielsweise die Wirkungen unterschiedlicher Ernährungsweisen auf Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft evaluiert (Hoffmann 2002). Darauf aufbauend wird im Rahmen der neuen Professur Ernährungsökologie der Fokus zusätzlich auf die Komplexität der Ernährung, den Umgang mit der Komplexität und den Nutzen dieses Ansatzes zur Lösung lokaler und globaler Ernährungsprobleme gelegt. Konkret bedeutet dies für die Lehr- und Forschungsaktivitäten der Professur Ernährungsökologie, dass Ernährung in der Art betrachtet wird, dass über den reduktionistischen Ansatz hinausgehend nicht-lineare Ursachen-Wirkungszusammenhänge mit hochgradig vernetzten Wirkungen und Rückwirkungen einbezogen werden und dass ein inter- bzw. transdisziplinärer Ansatz in der Ernährungsforschung verfolgt wird (Hoffmann 2003). Es sollen sowohl die verschiedenen Dimensionen der Ernährung als auch Ernährung als komplexes System untersucht und dargestellt werden, um als Lösungsansätze für Ernährungsprobleme herangezogen werden zu können.
Forschungsschwerpunkte im Rahmen der Stiftungsprofessur Ernährungsökologie
Weiterentwicklung des Konzeptes der Ernährungsökologie
Das Konzept der Ernährungsökologie beruht darauf, dass Ernährung sowohl im Zusammenhang mit Gesundheit als auch mit Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft betrachtet wird. Es ist eine Weiterentwicklung dieses Konzeptes in dem Sinne geplant, dass zum einen Ernährung in ihrem Wechselspiel mit diesen verschiedenen Dimensionen weiter untersucht und beschrieben wird. Zum anderen sollen die verschiedenen Dimensionen gleichzeitig und in ihren Wechselwirkungen miteinander untersucht und beschrieben werden.
Weitere Untersuchungen zu Aspekten des Ernährungssystems
Ein Ansatz, das komplexe System Ernährung in seinen Komponenten zu betrachten, ist der, Lebensmittel entlang ihres „Lebenswegs“ zu untersuchen - von der Erzeugung über die industrielle Verarbeitung, den Handel, die zwischengeschalteten Transporte und Verpackungen bis hin zum Haushalt und der Entsorgung. Es ist geplant, ernährungsökologischen Fragestellungen zu einzelnen Gliedern dieses Ernährungssystems nachzugehen (z. B. Auswirkungen von unterschiedlichem Verarbeitungsgrad einzelner Lebensmittel auf verschiedene Dimensionen der Ernährung).
Ernährung als komplexes System
Aufgrund zunehmender Komplexität von Wissen und Problemstellungen in allen Wissenschaftsgebieten handelt es sich bei der Komplexitätsforschung um ein sich schnell entwickelndes Gebiet. Um diese Forschung auf Ernährung anwenden zu können, sollen Ansätze daraus sowie Methoden und Techniken der Modellierung, die bereits in anderen Bereichen etabliert sind, auf ernährungsökologische Fragestellungen übertragen werden. Daran schließt sich die Frage nach der Darstellbarkeit dieser Erkenntnisse sowie nach dem entsprechenden Wissenstransfer an.
Nachdem Ernährungsökologie in Gießen im Diplomstudiengang der Haushalts- und Ernährungswissenschaften als Wahlvertiefungsveranstaltung belegt werden konnte, ist das neue Wissenschaftsgebiet im Bachelor- und Masterstudiengang im Bereich Ökotrophologie mit Profilmodulen vertreten.
Zusätzlich zur Arbeitsgruppe Ernährungsökologie im Rahmen der Professur Ernährungsökologie ist an der Justus-Liebig-Universität Gießen weiterhin der Studentische Arbeitskreis Ernährungsökologie aktiv. Dieser Arbeitskreis bietet jedes Semester eine Vortragsreihe zu Themen der Ernährungsökologie für Studierende und die breite Öffentlichkeit an.
Weitere Kontaktmöglichkeiten bzw. eine erste Anlaufstelle für InteressentInnen bietet die im Internet existierende „Plattform Ernährungsökologie“. Diese enthält die Kontaktadressen der bisher bestehenden Arbeitsgruppen im Bereich Ernährungsökologie.