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Soziale Medien im Genesungsprozess von Magersucht: Nicht nur negativ

Soziale Medien werden im Kontext von Essstörungen häufig verteufelt. Zuerst gesprochen wird dabei meistens über bearbeitete Fotos von perfekt posierten Körpern. Dass der Zusammenhang zwischen Social Media und Magersucht (Anorexia nervosa; Anorexie) allerdings viel komplexer ist und es dabei nicht nur negative Seiten gibt, konnte ich im Rahmen meiner Masterarbeit herausarbeiten.

Soziale Medien und Anorexie - Was wissen wir bisher?

Soziale Medien spielen eine Rolle in der Entstehung von Anorexia nervosa - das ist gut erforscht. Durch das Verbreiten von unrealistischen Körperidealen kann eine erhöhte Körperunzufriedenheit entstehen, was wiederrum essgestörtes Verhalten fördern kann. Auch wie soziale Medien in der aktiven Phase der Erkrankung genutzt werden, wurde von bisheriger Forschung betrachtet. Hierbei wird unterschieden zwischen konstruktivem (genesungsförderndem) und destruktivem (krankheitsförderndem) Medienhandeln. Eine große Rolle spielen der Konsum von Inhalten mit Essstörungsbezug, welche entweder hilfreich (z.B. Hilfsangebote, Inhalte zu Body Positivity) oder problematisch (z.B. essstörungsglorifizierende Inhalte) sein können. Auch das Teilhaben an Online-Communities wird häufig bei Personen mit Magersucht beobachtet. Diese Online-Communities können ebenfalls in genesungsfördernd (Pro-Recovery-Communities) und erkrankungsfördernd (Pro-Ana-Communities) unterteilt werden. In der Realität ist das Unterscheiden von hilfreichen und problematischen Aspekten von Onlinehandeln allerdings nicht immer so offensichtlich wie in der Theorie.

Wenn man also betrachtet, dass soziale Medien sowohl in der Entstehung als auch im Verlauf von Anorexia nervosa eine ausgeprägte Rolle spielen, stellt sich die Frage: wie sieht der Zusammenhang im Genesungsprozess aus? Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Überwindung von einer Magersucht Monate bis teilweise mehrere Jahre andauern kann und der Prozess nur sehr selten linear verläuft. Rückfälle in symptomatisches Verhalten werden sehr häufig beobachtet und gelten teilweise als integraler Teil des Genesungsprozesses. Vor diesem Hintergrund hat sich die Idee für meine Forschungsfrage ergeben: Welche Rolle spielen soziale Medien im Prozess der Genesung von Anorexia nervosa und bei möglichen Rückfällen?

Meine Methodik

Es war relativ schnell klar, dass sich qualitative Interviews als Erhebungsmethode am besten eigenen. Auch bei der Frage, wen ich interviewen möchte, war klar, wer mir die besten Einblicke in das Onlineverhalten von Personen, die sich im Genesungsprozess von Magersucht befinden, geben kann: Ehemalige Betroffene. Mir war es wichtig, dass meine Interviewpartner:innen zum Zeitpunkt der Interviews vollständig genesen (also symptomfrei) sind, um zusätzlich erheben zu können, inwieweit die Erkrankung auch in Anschluss an die Überwindung eine Rolle im Onlineverhalten spielt. Zusätzlich habe ich Personen gesucht, die Therapieerfahrung haben, um die Integration von Social-Media-Themen in der Essstörungstherapie zu besprechen. Da es sich dabei um eine sehr spezifische und sehr schwierig zu erreichende Zielgruppe handelt, habe ich bereits vor der Anmeldung meiner Arbeit geschaut, ob Zugang zu dem Feld besteht. Die tatsächliche Proband:innensuche hat sich im Verlauf des Schreibens allerdings als komplizierter als zu Beginn erhofft herausgestellt. Personen und Organisationen, die mir zu Beginn eine Teilnahme zugesichert hatten, sind kurzfristig doch abgesprungen. Letztendlich konnte ich über Bekannte sowie über Ausschreibungen auf Instagram sechs Interviewpartnerinnen gewinnen. Sowohl beim Erstkontakt als auch bei der Durchführung der Interviews war ich sehr darauf bedacht, dass sich meine Befragten sicher und wohl fühlen. Deswegen habe ich sie vorher gefragt, ob sie das Interview via Telefon oder via Videochat durchführen wollen. Vor Beginn der Interviews habe ich außerdem mehrmals versichert, dass sie das Gespräch jederzeit abbrechen können oder Fragen überspringen können. Meine Gesprächspartnerinnen waren zum Glück selber sehr begeistert von dem Thema und haben sehr offen und reflektiert über ihre Erkrankung gesprochen. Bei dem Transkribieren der ersten drei Interviews habe ich allerdings gemerkt, dass ich teilweise zu wenig Nachfragen gestellt habe und bei der Gesprächsführung darauf bedacht war, in keine Fettnäpfchen zu treten oder unsensible Nachfragen zu stellen. Das hat dazu geführt, dass die Interviews teilweise sehr kurz und eher oberflächlich waren. In den folgenden Gesprächen habe ich darauf geachtet mehr Nachfragen zu stellen und nach Beispielen zu fragen. Die letzten drei Interviews wurden so detaillierter und länger. Insgesamt habe ich 165 Minuten Interviewmaterial aufgezeichnet, transkribiert und mithilfe der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022) mit dem Programm MAXQDA ausgewertet.

Ergebnisse

Alle meine Interviewpartnerinnen waren sich einig: soziale Medien hatten einen Einfluss auf ihren Genesungsprozess. Sie haben sowohl Faktoren genannt, welche die Erkrankungsüberwindung gefördert haben, als auch Faktoren, die zu der Aufrechterhaltung der Erkrankung beigetragen haben. Ein Überblick über die Erkenntnisse wird in Tabelle 1 gegeben:

In Bezug auf die Rolle sozialer Medien sind zwei Aspekte auffällig geworden: Einerseits wurden soziale Medien von einer Befragten als Art Instrument für einen „geplanten“ Rückfall verwendet: der Impuls für den Rückfall war bereits gegeben, soziale Medien wurden genutzt, um symptomatisches Verhalten zu triggern. Andererseits konnte ich Einflussfaktoren von möglichen Rückfällen auf das Onlineverhalten der Befragten beziehen: Ein starkes soziales Umfeld gilt als ein Aspekt, der vor Rückfällen schützen kann. Im Kontext von Social Media bedeutet das, dass die Betroffenen sich von den möglicherweise problematischen Online Communities distanzieren sollten und sich parallel im realen sozialen Umfeld verankern sollten. Außerdem vor Rückfällen schützen kann das Entwickeln einer essstörungsunabhängigen Identität. Für soziale Medien bedeutet das, dass auch die Online-Identität und das Online-Verhalten von der Erkrankung separiert werden sollte.

Was bedeutet das für die Praxis?

Aus meinen Interviews ging ebenfalls hervor, dass keine der Interviewpartnerinnen das Gefühl hatte, dass die Thematik der sozialen Medien ausreichend in der Essstörungstherapie behandelt wurde. Gleichzeitig sehen sie ein großes Potenzial in der Thematisierung von sozialen Medien und dem Onlineverhalten. Was allerdings fehlt: Wissen auf Seiten der Therapeut:innen. Es ist demnach wichtig, dass das Fachpersonal aufgeklärt wird, wie vielfältig der Einfluss sozialer Medien auf die verschiedenen Erkrankungsphasen einer Magersucht sein kann. Eine Implementierung der Thematik ist sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting sinnvoll und kann folgende Bereiche umfassen:

  • Allgemeine Medienkompetenzen
  • Therapeutische Aufarbeitung des Nutzungsverhaltens
  • Gründe der Nutzung
  • Art und Weise der Nutzung
  • Funktion von sozialen Medien für die Erkrankung

Auch für zukünftige Forschung besteht Bedarf. Interessant wäre es beispielsweise zu betrachten, inwieweit soziale Medien auslösender Impuls für den Genesungswunsch oder für potenzielle Rückfälle sein können.

Insgesamt habe ich als Fazit meiner Masterarbeit gezogen: ein Thema zu finden, das man wirklich interessant findet, ist vielleicht schwierig, aber absolut sinnvoll. Durch meine Probleme bei der Proband:innensuche hatte ich natürlich Phasen im Schreibprozess, in denen ich mein Vorhaben hinterfragt habe. Im Nachhinein bin ich aber sehr froh, mich für dieses vielleicht etwas sensiblere Thema entschieden zu haben, da ich sehr viel für meine berufliche Zukunft gelernt habe. Ein großer Dank geht an meine Interviewpartnerinnen, die mir mit ihren offenen Erzählungen und ihrem Vertrauen sehr weitergeholfen haben. Ich bin gespannt, wie es mit der Auseinandersetzung mit der Thematik Social Media und Essstörungen in Zukunft auf Seiten der Forschung und der Therapiepraxis weitergeht.

Literatur

Kuckartz, U., & Rädiker, S. (2022). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung: Grundlagentexte Methoden (5. Auflage). Beltz Juventa. (ISBN 978-3-7799-5533-7 978-3-7799-6231-1)


Vielen Dank an Anna Möller für diesen Einblick in Ihre Masterthesis zum Thema "Die Rolle sozialer Medien im Prozess der Genesung von Anorexia nervosa", die sie 2024 unter der Betreuung von Prof. Dr. Jasmin Godemann und Dr. Juliane Yildiz abgeschlossen hat! Für die Zukunft wünschen wir Ihnen alles Gute!