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Plasmaexperimente in der Schwerelosigkeit

ISS-Mission: Prof. Dr. Markus Thoma vom I. Physikalischen Institut der Universität Gießen steuerte im Kontrollzentrum in Toulouse gemeinsam mit einem internationalen Team Experimente der Apparatur PK-4

Nr. 202 • 1. November 2016

Das JLU-Team vor dem Parabelflugzeug (v.l.n.r.): Michael Kretschmer, Christopher Dietz, Christian Schinz, Benjamin Steinmüller, Thomas Nimmerfroh, Markus Thoma, Leon Kleinschmidt. Foto: Michael Kretschmer / JLU


Bei Plasmaexperimenten in der Schwerlosigkeit steht die Dynamik von Vielteilchensystemen im Fokus. Auf der Internationalen Raumstation (International Space Station, kurz ISS) wird dazu u.a. seit zwei Jahren die sogenannte Apparatur PK-4 (das „Plasmakristallexperiment 4“) betrieben. Als kürzlich, Anfang Oktober 2016, eine Experimentmission mit PK-4 auf der ISS durchgeführt wurde, saß auch Prof. Dr. Markus Thoma vom I. Physikalischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) mit im Kontrollzentrum in Toulouse, Frankreich.
Prof. Markus Thoma („horizontal“) mit Christopher Dietz (vorn) und dahinter Christian Schinz beim Experimentieren in der Schwerelosigkeit. Foto: Katrin Stang / DLR


Drei Tage lang steuerten Spezialisten der französischen Raumfahrtagentur CNES (Centre National D´ études spatiales) zusammen mit Wissenschaftlern die Experimente vom Kontrollraum aus. Auch der russische Kosmonaut Anatoli Ivanishin, mit dem das Bodenpersonal in Verbindung stand, beteiligte sich aktiv an den Experimenten. Die aufgezeichneten Daten werden voraussichtlich Ende Oktober 2016 mit einer russischen Sojuskapsel zur Erde transportiert und anschließend den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Gießen und in anderen internationalen Forschungseinrichtungen zur Auswertung zur Verfügung stehen.

Modell von PK-4 an der JLU

Enge Verbindungen bestehen seit Jahren auch zwischen der JLU Gießen und dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) in Garching. Ein Ingenieursmodell von PK-4, das bau- und funktionsgleich zum Flugmodell auf der ISS ist, befindet sich seit Mitte 2015 am I. Physikalischen Institut der JLU und wird zur Vorbereitung von Experimenten auf der ISS und zur Durchführung von Parabelflugexperimenten genutzt.

In der Arbeitsgruppe von Prof. Thoma am I. Physikalischen Institut werden bereits seit 2013 plasmaphysikalische Forschungen durchgeführt. Zuvor war der Gießener Physiker von 2002 bis 2013 am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) in Garching als leitender Projektwissenschaftler für die Entwicklung der Apparatur PK-4  verantwortlich. PK-4 wurde in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), der European Space Agency (ESA), der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos, dem Joint Institute for High Temperatures in Moskau und der Industriefirma OHB gebaut und wird seit 2014 auf der ISS betrieben. Zur Entwicklung der Experimenteinheit PK-4 wurden von 2003 bis 2012 in neun Parabelflugkampagnen Tests in der Schwerelosigkeit unternommen. Am MPE war dazu eine langjährige Expertise vorhanden, da dort bereits seit rund 20 Jahren Versuche in Parabelflügen sowie  auf der Raumstation ISS durchgeführt werden.

Parabelflugkampagne in Bordeaux

Zusätzlich zu der Experimentmission auf der ISS, die jetzt von Toulouse aus gesteuert wurde, hatte Prof. Thoma im September 2016 mit der Apparatur PK-4  zusammen mit einem Team aus sechs Wissenschaftlern und Ingenieuren der JLU (Christopher Dietz, Leon Kleinschmidt, Dr. Michael Kretschmer, Thomas Nimmerfroh, Christian Schinz, Benjamin Steinmüller) an einer Parabelflugkampagne in Bordeaux teilgenommen. Dabei wurden in einem Airbus A310 – dem ehemaligen, für Parabelflugzwecke umgebauten Regierungsflugzeug „Konrad Adenauer“ –  spezielle Manöver geflogen, so dass im Inneren für jeweils 20 Sekunden Schwerelosigkeit herrschte. An vier Flugtagen wurden pro Flug 31 Parabeln absolviert, nachdem die Versuchsapparaturen in der Woche vorher ins Flugzeug eingebaut wurden.   

In den Parabelflügen wurden unter anderem sogenannte elektrorheologische Flüssigkeiten mit Hilfe eines komplexen Plasmas simuliert. Diese speziellen Flüssigkeiten, die ebenfalls kleine Partikel enthalten, verändern beim Anlegen von elektrischen Feldern stark ihre Eigenschaften. Feststellbar ist zum Beispiel  eine sprunghafte Vergrößerung der Viskosität. Sie finden in Schockabsorbern und Bremssystemen wichtige Anwendungen. Die Bilddaten der Experimente, die nach Aussagen von Prof. Thoma erfreulicherweise alle sehr erfolgreich verlaufen seien, werden in Kürze in seiner Arbeitsgruppe ausgewertet. Sie sollen einen zentralen Beitrag zu zwei Dissertationen an der JLU darstellen.

Die Forschungsarbeiten zu den ISS- und Parabelflugexperimenten an der JLU werden vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gefördert.

Untersuchung komplexer Plasmen als Modellsystem für die Grundlagenforschung

Plasmen sind elektrisch leitende Gase aus Elektronen, Ionen und Atomen oder Molekülen, die in elektrischen Entladungen oder durch hohe Temperaturen erzeugt werden. Sie kommen zum Beispiel bei der Beleuchtung in Neonröhren, aber auch bei der Mikrochipproduktion sowie in vielen anderen technischen Bereichen zur Anwendung. Ein Anwendungsbeispiel ist auch die Sterilisation – ein Thema, das ebenfalls in der Arbeitsgruppe von Prof. Thoma untersucht wird.

Ein Schwerpunkt der Forschungen in der Gießener Arbeitsgruppe von Prof. Thoma liegt auf der Untersuchung sogenannter komplexer Plasmen, die neben dem Plasmagas noch Mikrometer große Partikel („Staub“) enthalten. Diese „Staub“-Partikel laden sich im Plasma durch Elektronenanlagerung stark negativ auf und bilden aufgrund der elektrostatischen Wechselwirkung untereinander ein stark gekoppeltes Vielteilchensystem. In solchen Systemen können interessante neuartige Phänomene auftreten, wie beispielsweise die Anordnung der Partikel in einer kristallinen Struktur, dem sogenannten Plasmakristall.

Komplexe Plasmen sind in Plasmakammern leicht herzustellen und zu beobachten. Sie stellen deshalb ein einzigartiges Modellsystem für die Grundlagenforschung der Dynamik von Vielteilchensystemen dar, wie zum Beispiel bei der Untersuchung von Phasenübergängen auf dem mikroskopischen Niveau der einzelnen Teilchen.

Im Labor müssen die geladenen Partikel durch elektrische Felder in der Schwebe gehalten werden, damit man sie beobachten kann. Diese Felder beeinflussen aber die Wechselwirkung zwischen den Teilchen. Für viele Fragestellungen sei es daher notwendig, komplexe Plasmen in der Schwerelosigkeit zu untersuchen, erklärt Prof. Thoma.


  • Weitere Informationen

https://www.uni-giessen.de/fbz/fb07/fachgebiete/physik/einrichtungen/ipi
https://www.uni-giessen.de/fbz/fb07/fachgebiete/physik/institute/ipi/raumfahrtphysik/plasma-raumfahrtphysik
http://www.dlr.de/dlr/desktopdefault.aspx/tabid-10337/1345_read-10069/#/gallery/14684


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Forschung