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Typisch Gießen!

 

Foto: Sebastian Ringleb

Durch Schönheit besticht Gießen nicht. Was ist es dann, was die Stadt sympathisch und lebenswert macht?

Gießen hat die höchste Studierendendichte Deutschlands und ist dadurch die jüngste Stadt Hessens. Gebäude von Universität und Hochschule und viele junge Menschen prägen die Stadt – hier steht seit langer Zeit Vieles im Zeichen der Forschung und Lehre.

Zur Hochschulgeschichte und zur Stadt gehören aber nicht nur Justus von Liebig und Wilhelm Conrad Röntgen. Auch die Psychologie hat in Gießen eine lange Tradition: Bereits 1904 veranstaltete Robert Sommer, Professor und Direktor der neu gegründeten Psychiatrischen Klinik der Universität, in Gießen den ersten Kongress für experimentelle Psychologie. Dies war zum einen der Beginn der auch heute noch jährlich stattfindenden Tagung experimentell arbeitender Psychologen und zum anderen auch der Startschuss für die Gesellschaft für experimentelle Psychologie, die 1929 in die Deutsche Gesellschaft für Psychologie umbenannt wurde.

Der vielleicht bekannteste deutsche Psychologe Kurt Koffka habilitierte, lehrte und forschte von 1911 bis 1927 in Gießen, bis er zum Smith College in die Vereinigten Staaten wechselte. Ihm zu Ehren verleiht der Fachbereich Psychologie jährlich die Kurt-Koffka-Medaille an internationale Spitzenforscherinnen und -forscher im Bereich Wahrnehmungs- oder Entwicklungspsychologie.

Auch die Psychosomatik und Psychoanalyse sind fest in Gießen verankert: 1962 wurde der Mediziner, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst Eberhard Richter auf den damals neuen zweiten deutschen Lehrstuhl für Psychosomatik berufen. Er baute hier ein interdisziplinäres Zentrum für psychosomatische Medizin auf und gründete ein psychoanalytisches Institut. Er war Pionier der Psychosomatik, international angesehener Psychoanalytiker und Friedensaktivist – er wirkte in viele gesellschaftliche Bereiche als Leitfigur hinein. In Gießen hat er sich stark für die Menschen einer Obdachlosensiedlung engagiert und blieb ihnen zeitlebens verbunden.

 

Foto: Katrina Friese

Und was abseits der Hochschulen typisch für Gießen ist: Keramikfliesen, Ringautobahn, Kopie des Klagenfurter Stadttheaters, Elefantenklo, Oscar-Preisträger, Schlammbeiser, Geotope aus 11 Erdzeitaltern, Gießkannen-Museum, Przewalsky-Pferde, Wohnen im Schlachthof, Mathematikum, Automeile, Bergwerkstradition, Bellschuh, die Manische Sprache, Unterer und Oberer Hardthof, Gießen 46ers, mittelhessischer Ton, Eulenkopf und Gummiinsel, Lungenstein, Männer-Bade-Verein, Standesamt im Loire-Schlösschen, Marktlauben, Paddeln – Rudern – Tretbootfahren, MUK; Ulenspiegel und Scarabée, Hochbunker Typ Winkel, ein Philosophenwald.

Gießen bietet natürlich ebenfalls alles, was ein Oberzentrum darüber hinaus zum Wohnen, Arbeiten und Leben braucht. Und trotz aller Vielfalt sind in Gießen die Wege nicht weit und auf dem Wochenmarkt trifft man ganz sicher Bekannte. Es gibt auch heute noch Bereiche, da ist es richtig schön: der Botanische Garten, der Alte Friedhof, der Brandplatz mit Altem und Neuem Schloss und Zeughaus, das Südviertel im Gründerzeitstil, die Bruchstraße, die Lahn. Und prächtige mittelhessische Landschaft drumherum mit Burgen, Klöstern, Wäldern.

 

Foto: Michael Schepp

Angefangen hat Gießen 1152 mit der Wasserburg »Zu den Giezzen« von Wilhelm von Gleiberg. Die Burg lag im Mündungsdelta der Wieseck, die sich damals in Form von vielen Bächen in die Lahn ergoss. Das damalige Umland war wasserreich und sumpfig – entsprechend mühsam waren die Wege. Das Leib‘sche Haus (ehemals für die Burgmannen gebaut) und später das Wallenfels‘sche Haus wurden noch innerhalb der Burg gebaut und sind heute die ältesten verbliebenen Häuser. Mit der Zeit wuchs Gießen über die Burg hinaus: Stadtrechte gab es ab 1248. Die Landgrafschaft Hessen legte um 1300 das Alte Schloss an. Kurz drauf wurde die Neustadt gegründet, ab 1370 Bürgermeister benannt. 1607 entstand die Universität. Es folgten später im 17. Jahrhundert Krieg und Pest, auch das 18. Jahrhundert war voller Kriege und Besatzungen.

1803 dann wurde Gießen Verwaltungssitz der neuen Provinz Oberhessen im Großherzogtum Hessen. Die industrielle Revolution kam nach Gießen: 1848 wurde die Stadt mit der Rhein-Weser-Bahn an das Deutsche Bahnnetz angeschlossen, unter- und übertage wurde Manganerz gefördert. Die in Gießen ab 1891 hergestellte Baukeramik wurde u.a. nach Moskau, St. Petersburg und Brüssel exportiert. Wohlhabende Industrielle bauten sich neue Villen. 1893 wurde die Johanniskirche eingeweiht. Ab 1894 gab es in Gießen öffentlichen Nahverkehr mit Pferdeomnibussen, später mit einer Straßenbahn. 1907 eröffnete das größtenteils von Bürgern gestiftete Stadttheater.

Der erste Weltkrieg veränderte die Stadt, der zweite Weltkrieg zerstörte sie nahezu: 1944 wurde in einer Bombennacht das mittelalterliche Herz der Stadt in einem Feuersturm vernichtet. So wird Gießen heute nicht durch Fachwerk, sondern durch die Nachkriegsarchitektur geprägt. Die Stadt wuchs im Wiederaufbau, Dörfer wurden eingemeindet, Häuser, Schulen, Straßen, Bäder gebaut. Für viele Jahre war Gießen die einzige Anlaufstelle für Geflüchtete aus der DDR (heute sind es Geflüchtete aus anderen Teilen der Welt, die in die Erstaufnahmeeinrichtung hierher kommen). 1977 wurde Gießen sogar für eineinhalb Jahre Großstadt: Zusammen mit dem 15 km entfernten Wetzlar wurde die Stadt Lahn gegründet – und kurz darauf wieder aufgelöst. Bis 2007 war Gießen das zentrale Warenverteilzentrum der amerikanischen Streitkräfte in Europa. Jetzt finden sich im Depot Naturschutzflächen, Wohnquartiere und Gewerbegebiete. Auch andere Bereiche in Gießen wandeln sich und füllen sich mit neuem – typisch Gießener – Leben.