Figurenkonstellation in Winterspelt
Mit „Winterspelt“ hat Andersch einen Roman geschaffen, der sich durch die komplexe
Verknüpfung und Variation einiger zentraler Strukturelemente auszeichnet. Ein
solches Element sind die handlungstragenden Figuren. Charakterisiert werden die
vier Hauptfiguren – der Major Joseph Dicklage, Wenzel Hainstock, Käthe Lenk und
Captain John Kimbrough – durch eingeschobene ‚Biogramme‘, die jeweils
rückblickend die Geschichte eines der Protagonisten erzählen. Durch diese
Biogramme werden die Figuren sowohl in politisch-ideologischer als auch in
moralischer Hinsicht im Roman positioniert.
Der Kunsthistoriker Schefold und der Soldat Reidel, deren Konfrontation dem
Scheitern von Dincklages Plan letztlich zugrunde liegt, werden demgegenüber
vermittels innerer Monologe genauer charakterisiert. Andersch hat seinen Figuren im
Roman zusätzlich zu ihrer Funktion als individuell charakterisierte Handlungsträger
noch eine weitere Aufgabe gegeben: Sie vertreten jeweils unterschiedliche Denk-
und Handlungs- bzw. Haltungsweisen, sie verkörpern Prinzipien.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Andersch der Figur Käthe Lenk. Durch sie wird
der Plan Dincklages vorangetrieben und in die Wege geleitet. Zudem ist sie die
einzige Figur, welche mit allen Hauptcharakteren in Kontakt kommt – sei es als enge
Vertraute oder nur ein flüchtiger Kontakt, ein Blick oder eine kurze Konversation. Sie
steht im Roman für spontanes Handeln, für anarchistisches Denken. Sie macht kein
Geheimnis aus ihrer Abneigung gegenüber Krieg und Politik: Wenn er [der Krieg]‚
das Abenteuer der deutschen faschistischen Bande ist‘ (Hainstock), so ist er eine
Naturkatastrophe, eine Katastrophe der menschlichen Natur.“ Im Gegensatz
dazu steht der Versuch Dincklages, seinen Plan, ein gesamtes Bataillon kampflos den
Amerikanern zu übergeben, militärisch und moralisch miteinander in Einklang
zu bringen. Er versucht, planvoll und gezielt vorzugehen, um sein Vorhaben
erfolgreich umzusetzen. Aus Käthes Beschreibung geht am deutlichsten hervor,
warum sie den Plan Dincklages unterstützt und weiter vorantreibt. Sie hat ein
persönliches Ziel, ein Motiv welches sie mit Hilfe des Unternehmens in die Tat
umsetzen will: Flucht. Sie hat vor, nicht nur Winterspelt, sondern Deutschland zu
verlassen, was ihr am Ende auch gelingt. Jedoch nicht mit der Hilfe von Joseph
Dincklage, den sie liebt, sondern mit Hilfe von Hainstock, der sie durch den Wald
bis zur Grenze begleitet.
Literatur:
Andersch, Alfred: Winterspelt. Zürich 1977.
Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch: Eine Biografie. Zürich 1990.
Scherpe, Klaus R: Literarische Militanz gegen den Militarismus. In: Annette Korolnik-Andersch u. Marcel Korolnik (Hrsg.): Sansibar ist überall. München 2008.
Scherpe, Klaus R: Autor eines Kunstwerks. In: Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking (Hrsg): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Opladen 1994.
Schütz, Erhard: Alfred Andersch. München 1980.