Der "Lesende Klosterschüler"
Ein zentrales Element von „Sansibar oder der letzte Grund“ stellt die Holzfigur „Lesender Klosterschüler“ von Ernst Barlach aus dem Jahr 1930 dar. Die Existenz der in der Kirche des Pfarrers Helander ausgestellten Plastik ist durch die Machthaber bedroht, da sie in der Liste von Kunstwerken verzeichnet ist, die nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen. Aus unterschiedlichen Gründen übt der „Lesende Klosterschüler“ eine faszinierende Wirkung auf die Protagonisten des Romans aus. Für die Jüdin Judith bietet etwa sich mit der Rettung der Statue durch den Fischer Knutsen die letzte Chance zur Flucht aus Deutschland.
Zwar wird der Name des Künstlers im Roman selbst nicht genannt; den expliziten Hinweis gibt Andersch allerdings in der Einleitung zur Hörspielfassung, die unter dem Titel „Aktion ohne Fahnen“ 1958 produziert wurde. Darin nennt er Berichte über die Ächtung Ernst Barlachs als den konkreten Anlass, um über die Verfolgung von Kunst zu schreiben. Nach Stephan Reinhardt war eine weitere Inspirationsquelle Anderschs ein Zeitungsbericht über den Zigaretten-Fabrikanten Hermann Fürchtegott Reemtsma, der die Werke Barlachs aufkaufte, um sie vor der Zerstörung der Nationalsozialisten zu retten.
Eine lange Reflexion über den „Lesenden Klosterschüler“ legt Andersch seinem Protagonisten Gregor in den Mund:
„Sie saß, klein, auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Gregor nährte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt, zu beiden Seiten der Stirne, die Ohren und die Schläfen verdeckend. Seine Augenbrauen mündeten wie Blätter in den Stamm einer geraden Nase, die einen tiefen Schatten auf seine rechte Gesichtshälfte warf. Sein Mund war nicht zu klein und nicht zu groß; er war genau richtig, und ohne Anstrengung geschlossen. Auch die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber die waren es nicht, der junge Mann schlief nicht, er hatte nur die Angewohnheit, die Augendeckel fast zu schließen, während er las. Die Spalten, die seine sehr großen Augendeckel gerade noch freiließen, waren geschwungen, zwei großzügige und ernst Kurven, in den Augenwinkeln so unmerklich gekrümmt, daß auch Witz in ihnen nistete. Sein Gesicht war ein fast reines Oval, in ein Kinn ausmündend, das fein, aber nicht schwach, sondern gelassen den Mund trug. Sein Körper unter dem Kittel mußte mager sein, mager und zart; er durfte offenbar den jungen Mann beim Lesen nicht stören.“
Aufnahme:
Online: http://www.ernst-barlach.com/images_gr/barlach-463-lesen-klosterschuele.jpg
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