Die "Anderen"
Warum Alfred Andersch in „Sansibar“ nicht von den „Nazis“ sprach.
„Sansibar oder der letzte Grund“ spielt zwar erkennbar im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres 1937. Der Autor gibt allerdings an keiner Stelle explizite Hinweise auf die Machthaber. Die Anspielungstechnik, der er sich stattdessen bedient, und namentlich die Chiffre „die anderen“ für die Nationalsozialisten, geriet deshalb früh in Kritik.
Der Autor Reinhard Baumgart formulierte diese Kritik in dem programmatischen Essay „Unmenschlichkeit beschreiben“ von 1965 folgendermaßen:
„In Alfred Anderschs Sansibar dagegen, das gerade seiner unrealistischen Tendenzen wegen, der tröstlichen Positivität seiner Figuren zuliebe, oft eine ‚Dichtung‘ genannt worden, dort heißen die Nazis ‚die anderen‘ […] Da richtet schon die Sprache schützend eine Grenze zwischen hüben und drüben, und hüben, jenseits des ‚Bösen‘, darf sich mit dem Autor auch der Leser einrichten und wohlfühlen.“ (Baumgart, Reinhard: Literatur für Zeitgenossen. Essays. Frankfurt am Main 1966, S. 12-36.)
Alfred Andersch reagierte auf Baumgarts Vorwurf in einem Gedicht mit dem Titel „Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“. Fällt Baumgarts Name noch im Manuskript, ist er im Typoskript des Texts eliminiert worden. „Das polemische und poetologische Gedicht gehört zu den wichtigsten Selbstzeugnissen Anderschs über seinen ersten Roman und weist zugleich auf seinen Sprachgebrauch in Winterspelt voraus“, wertete Dieter Lamping.
„Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“ von Alfred Andersch
1.
in meinem roman sansibar oder der letzte grund habe ich
die wörter die anderen
an die stelle der wörter die nazis
gesetzt
jemand bezeichnet mich deshalb
als lügner
wie mir die süddeutsche zeitung berichtet
hat er vor den studenten der universität münchen
von einem katheder für poetik herab
erklärt
ich fiele damit
ins lügnerische stilisierungsprinzip
mit anderen worten ich sei
ein lügner
denn um eine methode mit einer
anderen methode zu vergleichen
hätte das wort stilisierung genügt
das epitheton lügnerisch aber
diffamiert einen mann
2.
ich möchte nicht jemandem
doch den studenten der universität münchen
von keinem katheder für poetik herab
erklären
warum ich
in meinem roman sansibar oder der letzte grund
die wörter die anderen
an die stelle der wörter die nazis
gesetzt habe
es gibt dafür
zwei gründe
3.
erstens
ich bin in baiern aufgewachsen
ich kenne das wort nazi seit meiner kindheit
in einer ganz anderen bedeutung
immer war mir die bezeichnung nazi
für die nazis
zuwider
denn nazi
das ist die abkürzung einer vornamens
des barocken vornamens ignaz
und mehr als das
es meint
einen dummen pfiffigen lustigen knecht
aus traunstein oder trudering
der sich den schweiss wischt beim mistfahren
und sich auf die kegelbahn freut
dieser nazi
stirbt sicher bald aus doch
noch geistert er
durch die romane von ludwig thoma
die gedichte von georg britting
tief in den schönsten essays von joseph hofmiller
lebt versteckt
ein bairischer nazi
ein fröhlicher gesell
es tut mir leid ich kann seinen namen
nicht gebrauchen
um die nazis zu kennzeichnen
onomatopoetisch
ist das wort nazi
für die nazis
ungebrauchbar
es ist zu
gemütlich
4.
Zweitens
besteht das personal meines romans sansibar oder der letzte grund aus menschen
es treten in ihm ausschließlich menschen auf
ich bestreite den nazis das recht
menschen genannt zu werden
ich meine damit nicht den einzelnen nazi
der einzelne nazi konnte ein mensch sein
wenn er ein mensch war
das prinzip jedoch
das sich unter dem wort nazi zeigte
war außermenschlich
die nazis das waren
die anderen
jeder wusste das
als sie nazis herrschten
von stilisierung kann da gar keine rede sein
ich teile eine historische erfahrung mit
die erfahrung
dass es menschen und andere gibt
ich habe sie gemacht
5.
studenten der universität münchen
beurteilt danach
ob ich stilisiert
und gelogen habe
im übrigen waren ich euch
vor lehrern der literatur
die namen gegen namen ausspielen
den namen alexander kluge
beispielweise und absurd
gegen den namen rolf hochhuth
und dann rufen
der ist´s
und vier wochen später
nein, der
solche lehrer sind
keine lehrer der literatur sondern
funktionäre des literaturbetriebs
der eine beweist euch
beckett sei grösser als böll
der andere
böll grösser als beckett
als ob es darauf ankäme
während es darauf ankommt
zu untersuchen
unter welche bedingungen
seiner existenz
und seiner zeit
böll böll ist
beckett beckett
heißt das zuviel verlangen
von euch lehrern
studenten der universität münchen?
Literaturangaben:
-
Andersch, Alfred: Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman. Textüberlieferung aus: Heidelberger-Leonard/Wehdeking (Hgg.): Alfred Andersch, S. 226-228. DV: Typoskript (DLA, 80.546)
-
Baumgart, Reinhard: Literatur für Zeitgenossen. Essays. Frankfurt am Main 1966, S. 12-36.
-
Egyptien, Jürgen: Alfred Andersch. Sansibar oder der letzte Grund. Schroedel Interpretationen. Band 29. Braunschweig 2012
-
Andersch, Alfred: Gesammelte Werke Bd. 6: Gedichte und Nachdichtungen. Hg. Von Dieter Lamping. Zürich: Diogenes 2004.