Entstehung
Im Dezember des Jahres 1958 befand sich Alfred Andersch in Venedig. Von der Stadt und den Menschen dort inspiriert, schrieb er in einem Notizbuch Gedanken zu seiner neuesten Romanidee auf. Der Roman hieß zu diesem Zeitpunkt noch „Franziska“, war also nach der Protagonistin benannt. Vorlage für das Erscheinungsbild der Franziska war laut Andersch eine italienische Femme fatale, die in Venedig an einem Nebentisch saß.
Andersch, der als gut organisierter Autor gilt, hat sich auch für seine „Franziska“ zunächst einmal eines genauen Gerüstes bedient. Er begann damit, die erzählte Zeit des Romans, vier Tage von Freitag bis Montag, aufzuschlüsseln und festzulegen, welche Ereignisse der Protagonistin wann widerfahren sollten.
Dem Roman stellt Andersch ein Zitat aus Monteverdis Schrift „Die Vollkommenheit der Kunst“ voran: „Der moderne Komponist schreibt seine Werke, indem er sie auf der Wahrheit aufbaut“. Durch den Bezug auf Monteverdi ist bereits von Beginn an auf Italien als Kulisse und Inspiration für den Roman verwiesen.
Venedig
m November 1959 beendet Andersch die Arbeit am Manuskript, das er inzwischen „Die Rote“ betitelt hat, und schickt es seinem Verleger zu. Dazu schreibt er: „anbei Die Rote. Mehr fällt mir als Begleittext nicht ein.“
Interessant ist die Vorgehensweise Anderschs. Diese kann anhand der Vorarbeiten aus dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach nachvollzogen werden. Andersch schrieb zunächst in einem Notizbuch die gesamte Geschichte zu Franziska nieder. Die dazwischen geschobenen Passagen über seinen anderen Protagonisten, den Violinisten Fabio Crepaz, verfasste er erst nachträglich, ebenso die einmontierten Bewusstseinsströme von Fabios Vater, dem alten Fischer Piero. Auch die lapidaren Kapitelüberschriften kamen erst im Nachhinein dazu. Aus dem Manuskript geht ferner hervor, dass Andersch offenbar auch das umstrittene Schlusskapitel erst nachträglich geschrieben hat. Ein Hinweis darauf, dass der Autor sich selbst lange unsicher war, wie der Roman enden sollte.
Ein wichtiges strukturgebendes Merkmal des Romans ist die Gestaltung der beiden Protagonisten Franziska und Fabio aus einer konsequent durchgehaltenen, alternierenden internen Fokalisierung heraus. So erhalten die Leser einen genauen Einblick in die Gedankenwelt Franziskas und Fabios. Andersch hat diese ‚Eigencharakterisierung‘ der Figuren im Arbeitsprozess genau überlegt. Die Überarbeitungsstufen im Manuskript zeigen, dass er den inneren Monologen eine besondere Aufmerksamkeit hat zukommen lassen.
Bereits der Romananfang macht deutlich, wie präzise Andersch seine Protagonistin inszeniert, indem er ihre Gedanken variiert: „Ich bin nicht feige, aber manchmal habe ich Angst“, heißt es im Manuskript.
Alfred Andersch im Jahre 1965
In der Endfassung erweitert Andersch Franziskas Überlegung um eine Reflexion über ihr Verhältnis zu ihrem Gatten: „Wenn er [Herbert] jetzt käme, so würde es bedeuten, dass wir vielleicht im letzten Augenblick einen Modus fänden. Wie feige ich manchmal bin.“
Im Original klingt Franziska, als würde sie sich für ihre Ängste rechtfertigen. Daraus macht Andersch eine sich selbstbewusst ihre Fehler eingestehende Aussage Franziskas. Ein weiteres Beispiel für einen nachträglich eingefügten Gedanken in einen inneren Monolog ist die folgende Passage: „Es wäre so leicht, bei Herbert zu bleiben. Ich wäre verdammt, aber nichts ließe sich leichter arrangieren, als verdammt zu sein, ein Arrangement, mit leichter Hand getroffen, anlässlich eines – wie hatte Herbert sich ausgedrückt? – anlässlich eines Betriebsunfalls [mögliche Schwangerschaft]“. Hier wird gezeigt, wie Franziska über ihren weiteren Lebensweg reflektiert. Durch diese Einfügung wird der Entwicklungsprozess Franziskas für den Leser deutlicher.
1960 zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, erscheint der Roman wie sein Vorgänger „Sansibar“ im Walter Verlag. Der Text stieß auf internationales Interesse, Verlage in den USA, England und Schweden bemühten sich um Auslandslizenzen an der „Roten“. „[E]inen solchen Vorgang [hat es] seit 1945 im deutschen Buchhandel nicht gegeben“, freute sich Andersch, „und ich halte den Werbewert dieser Tatsache den Buchhändlern gegenüber für unermesslich.“
Der Roman war jedoch auch Gegenstand scharfer Kritik. Besonders das Schlusskapitel der Erstausgabe wurde häufig als zu „kitschig“ und sozialromantisch kritisiert. Aufgrund der nicht unberechtigten Bedenken von Rezensenten und Kollegen entschloss sich Andersch deshalb zwölf Jahre später zu einer Überarbeitung des Romans, dessen zweite Fassung dann 1972 bei Diogenes erschien.
Der Autor selbst benennt drei Schwachstellen seines Romans: „Die Vorgeschichte von Patrick und Kramer hätte in den Roman integriert werden müssen. Die Beziehung Patrick- Franziska sei nicht hinreichend motiviert. Und das Schlusskapitel lege das Missverständnis nahe, hier sei eine Lösung gemeint, was wenigstens im vordergründigen Sinne nicht zutreffe.“ Das eben benannte Schlusskapitel „Das Geheimnis solcher Häuser“ streicht Andersch und nimmt zudem einige stilistische Veränderungen vor. So entsteht ein offenes Ende des Romans.
Über diese Änderung sagte Andersch selbst: „Heute bin ich der Ansicht, dass es besser ist, dem Roman einen ‚offenen Schluss‘ zu geben und das weitere Schicksal Franziskas und Fabios der Phantasie des Lesers zu überlassen“ (1972).
Primärliteratur:
Andersch, Alfred: Die Rote. Zürich: Diogenes 1972.
Sekundärliteratur:
Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich: Diogenes 1990.