Übertragung im Theater: Theorie und Praxis theatraler Wirkung
Promotionsprojekt von Eva Holling
Betreuer: Prof. Dr. Gerald Siegmund und Prof. Dr. Hans Thies-Lehmann
----------- abgeschlossen, siehe Publikationen -----------
Die Studie entwickelt eine neue Untersuchungsmethode von Theater ausgehend von der Struktur der Übertragung, wie sie in der Psychoanalyse beschrieben wird. Sie folgt dabei Jacques Lacans Prämisse, dass Übertragung ein grundsätzlicher, intersubjektiver Vorgang ist, der zwar in der Psychoanalyse benannt und nutzbar gemacht wird, aber als „natürliches Modell“ auch außerhalb der Psychoanalyse vorkommt. Indem die Arbeit, wie ein breiter Kanon der Theaterwissenschaft ebenfalls, darstellende Kunst als genuin intersubjektiv strukturiert definiert, wird diese angreifbar für Phänomene der Übertragung; sie kann sogar selbst Übertragungseffekte freilegen und nutzen und so ihr eigenes ,experimentelles Modell‘ von Übertragung generieren.
Die Übertragungsstruktur eignet sich also dazu, Wirkungen des Theaters zu denken bzw. zur Theoretisierung der Lenkung von Wahrnehmung und zur Herstellung der im Theaterdiskurs vielbeschworenen gemeinsamen Situation, ohne dass bislang eine Publikation zu diesem Thema in der theaterwissenschaftlichen Landschaft vorliegt. Übertragungstheorie bildet dabei vorallem strukturelle Perspektiven aus, die die „Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte) des Theaters betrachten, und dabei in der Lage sind, die beiden Seiten einer häufig auftauchenden Dichotomie (zwischen verstehender und körperlich-affektiver Resonanz auf Kunst) gleichermaßen in den Blick zu nehmen: Übertragung steht als Struktur quasi vor Verstehen und Fühlen, löst diese aus und beeinflusst sie. Dadurch kann sie einen wichtigen und neuen Beitrag zur Aufführungsanalyse leisten, die sich bislang eher auf die eine (semiotische Analyse) oder andere (phänomenologische Analyse) Seite dieser Dichotomie schlägt. Methodisch vollzieht die Arbeit transdisziplinär Denkbewegungen und Kontexte nach, die die Struktur der Übertragung mit sich bringt.
Ausführliche Diskurse um die Phänomenologie der Übertragung entwickeln die Grundlage für eine Lesart auf das Theater hin. Die Arbeit blickt dabei abwechselnd aus der Perspektive der Übertragungstheorie und aus der Perspektive der künstlerischen Praxis auf den Begriff, um am Schluss der Arbeit zusammenzufinden und Theater als Übertragungsraum zu argumentieren.
Mit der ,Anrufung‘ bei Louis Althusser wird ausgehend von der subjektivierenden Struktur der Übertragung nach dezidiert ,theatralen Subjekten‘ und ihren Funktionen gefragt, denn sowohl für Lacans Übertragung als auch für Althussers Subjekte gilt, dass sie durch „Kategorisierung“ und „Funktionsweise“ erst zum Subjekt werden. Theater ist damit als subjektivierende Struktur von Präsentieren und Zuschauen (nämlich von Bühne und Publikum) zu begreifen: Theater interpelliert seine Subjekte. Übertragung wird so zur Grundlage für theatrale Interpellation und theatrale Wirksamkeit somit nicht als Wirkung des Theaters auf ein Subjekt begriffen, sondern eine Subjektivierung, als Wirkung des Theaters. Dabei ist eine wichtige Voraussetzung, das Subjekt als begehrendes zu begreifen.
Jacques Lacan liefert in seinen Freud-Lektüren verschiedene Differenzierungen des Übertragungsbegriffes und führt Agalma und sujet supposé savoir (das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, s.s.s.) an, mit welchen die Grundstruktur der Übertragung begreifbar und auf intersubjektive Vorgänge des Theaters hin gedacht wird. Agalma (ein Begriff aus Platons Symposion) besteht in einer intersubjektiven Struktur, nämlich einer überraschenden, weil grundlosen Wertunterstellung. Begehrendes, ,agalmatisches Sehen‘ [E.H.] erkennt etwas Wertvolles, nämlich letztlich das berühmte Objekt a, im Inneren des Gegenübers und macht Übertragung damit der Liebe ähnlich. Dies ermöglicht einen „Fall in den Geltungsbereich der Gebote des Anderen.“: Das begehrende Subjekt sieht sich als leer und möchte vom Reichtum des Geliebten profitieren, folgt also dessen Anweisungen. Übertragung kann so die Anlage zu einer Machtstruktur begünstigen. Das s.s.s. baut auf dieser Struktur der Unterstellung auf, die Wertunterstellung wird hier jedoch zur Wissensunterstellung. Das mutmaßlich wissende Subjekt enthält einen wertvollen Kern, der sich weniger ,wirtschaftlich‘ als stehender Wert denken lässt, sondern vielmehr intersubjektiv. Denn Wissen ist nach Lacan intersubjektiv produziert. Trotz dieses ,unsicheren‘ Status des Wissens zeigt die Struktur auf, wie symbolische Macht sich generiert: sie wird von dem Subjekt erzeugt, das sich dem s.s.s. freiwillig hinwendet, und diese Bewegung begründet z.B. den Einfluss von Expertentum. Strukturell ist hierbei ein doppeltes Nichtwissen wesentlich: Der Liebende weiß nicht, was ihm fehlt und der Geliebte weiß nicht, was er hat. Nur so kann und muss Wissen in der Leerstelle erzeugt werden, daher begreift Lacan Übertragung als ,krea(k)tiven Vorgang‘ [E.H.] und verbindet sie mit dem Begriff der Fiktion. Produktive Leerstellen gelten also als notwendige Voraussetzung für das Fingieren der Übertragung, das maßgeblich einhergeht mit einer Koppelung der beteiligten Subjekte an Funktionen: wie Lacan formuliert, geht es im intersubjektiven Rapport nicht um die ,Personen‘ selbst, sondern um ihre Funktion als Subjekt im Rapport.
Mit diesen Ansätzen lassen sich Machtstrukturen im Dispositiv des Theaters untersuchen, letztlich also auch etwas Politisches des Theaters beschreiben. Die Studie folgt dabei u.a. Jacques Rancière, dessen Kritik am passiven Zuschauen eine „apriorische Verteilung von Positionen und von Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die an diese Positionen geknüpft sind“, verdeutlicht – also krea(k)tive Übertragungen von der Bühne in den Zuschauerraum. Dies erlaubt es, das Potential zur Machtstruktur der Übertragung als konkret ausagierte Praxis im Theater zu befragen, die Mechanismen der Subjektivierung im Sinne der Interpellation (Althusser) anwendet. Die zentralen (Inter-)Subjektivierungsprozesse im Theater sind dabei die Fiktionalisierungen der Funktionen des Publikums sowie der Bühne. Forced Entertainment etwa nennen ihre Ansprachetechnik zur produktiven Verkennung des Publikums selbst ,fictionalisation‘ und ,misrecognising‘, eine Ansprache, die voller Unterstellung ist und durch den Abstand wirkt, den das interpellierte Subjekt zu dieser Interpellation spürt. Demgegenüber sind die Funktionen der ,Experten des Alltags‘ bei Rimini Protokoll davon abhängig, dass sie, wie ein s.s.s., in den Status der Expertise erhoben werden, dass an sie geglaubt wird. Zu unterscheiden wären dabei zwischen Prozessen, die instrumentelle und jenen, die experimentelle Umgangsweisen mit Übertragung ausagieren.
Die Arbeit geht dabei Bezügen auf verschiedene theoretische Disziplinen nach und reichert die Übertragungsperspektive auf die darstellende Kunst konsequent mit Blicken aus zeitgenössischen Performance- bzw. Theaterpraxen zurück auf die Übertragung an.
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