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Sakralraum und Bildungsgemeinschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit

Im baulichen Gefüge heutiger Universitäten führen Sakralräume ein Nischendasein. In der Vormoderne waren sie jedoch, so die zentrale These des Projekts, das räumliche Zentrum des institutionellen Lebens von Bildungsgemeinschaften wie Univer­sitäten, Kollegien oder Hohen Schulen. Aufgrund ihres quasi-monastischen Charakters fanden deren Mitglieder gerade durch die Liturgie zusammen, weshalb seit 1300 Kirchen und Kapellen – und nicht etwa Bibliotheken oder Lehrräume – den baulichen Nukleus eines komplexen Raumgefüges bildeten. Daran änderte sich auch durch die Reformation wenig. Vielmehr soll gezeigt werden, dass der Sakralraum in den folgenden Jahrhunderten bis zur Auf­klärung zum Ort akademischer Identitätsstiftung in der konfessionellen Vielfalt wurde.

 

Oxford, Merton College: Blick über den Chor der Kapelle nach Osten, nach 1288 – Sämtliche Fotos: Markus Späth / veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung: The Warden and Fellows of Merton College Oxford


Vorgehensweise: Obwohl ein reicher Denkmälerbestand die zentrale Rolle von Sakralräumen bei der Formierung des europäischen Bildungswesens belegt, hat sich die kunsthistorische Forschung allenfalls objektmonographisch mit ihnen beschäf­tigt. Durch diesen verengenden Zugriff auf den konkreten Bau wird jedoch dessen komplexe Einbindung in die Topographie der jeweiligen Institution ebenso vernachlässigt, wie der paraliturgische Charakter vieler akademischer Rituale der Vormoderne. Daher ist eine Analyse auf unterschiedlichen Ebenen von Räumlichkeit notwendig:

 

  1. mit welchen bau- und bildkünstlerischen Mitteln konnte überhaupt erst ein liturgischer Raum geschaffen werden, in dem Lernende wie Lehrende zu einer Bildungsgemeinschaft zusammenfanden?
  2. welche Stellung nahm dieser Sakralraum in der sich prozesshaft entwickelnden Raumtopographie der jeweiligen Bildungsinstitution ein?
  3. in welchem Maße fand aufgrund des paraliturgischen Charakters akademischer Praxis eine Sakralisierung dieser Topographie im Ganzen statt?
  4. welche Relationalitäten von Sakralräumen unterschiedlicher Bildungsgemeinschaften entwickelten sich zwischen dezidierter Bezugnahme, z. B. auf den gleichen Stifter, und Konkurrenz, so im Fall unterschiedlicher theologischer Positionen nach der Reformation?  

 

Es ist zentrales Ziel des Projekts, das Verhältnis von Sakralraum und höherer Bildung unter Berücksichtigung dieser Kategorien vergleichend für die europäische Vormoderne zu untersuchen. Da solche Räume als Bestandteile größerer Ensembels in langwierigen und von Transformationen geprägten Prozessen entstanden, wird die Zeit um 1500 nicht als eine der (kunsthistorischen) Epochenscheidung begriffen, sondern die Reformation vielmehr als einen katalysierenden Faktor, durch den spätmittelalterliche Raumkonzepte für neue konfessionelle Erfordernisse der Frühe Neuzeit nutzbar blieben.

 

Oxford, Merton College: Betender Scholar des Chorfensters nV, um 1306-11
Oxford, Merton College: Lesepult im Chor, Stiftung John Martock, 1504

 

Gegenstand: Solche Raumensembles haben sich vor allem in England mit den Kapellen von Colleges in Oxford und Cambridge sowie von deren Feederschools wie Eton oder Winchester erhalten. Glas- und Wandmalerei, aber auch Gestühl und Liturgica sind dort in der akademischen Stiftermemoria teils bis heute im Gebrauch. Der überlieferte Bestand ist derart dicht, dass daran sowohl die Rolle solcher Sakralräume als Nukleus spätmittelalterlicher Bildungsgemeinschaften als auch die Forttradierung mittelalterlicher Sakralraumkonzepte im Kirchenbau bis ins 18. Jahrhundert systematisch untersucht werden kann. Auf den dort erhobenen Befunden aufbauend werden dann vergleichend akademische Sakralräume in anderen Teilen Europas untersucht werden.

 

Im Rahmen einer Visiting Research Fellowship am Merton College Oxford wurden 2018 erste Befunde erhoben.

 

Erste publizierte Ergebnisse:

Markus Späth: Sakralraum und Bildungsgemeinschaft. Spätmittelalterliche College-Kapellen in Oxford, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 45 (2018), S. 81–106.