DFG-Projekt: Der Białowieża-Nationalpark. Mensch, Tier und Umwelt in der polnisch-weißrussischen Grenzregion
The Białowieża National Park. Man, Animal and Environment in the Polish-Belarusian Borderland; Laufzeit: 1.2.2014-31.1.2017
Der Urwald von Białowieża befindet sich ungefähr gleich weit von Warschau und Minsk entfernt in einer jahrhundertealten polnisch-belarussischen Kontaktzone, in der nationale Festlegungen im Unterschied zu religiösen und sozialen erst sehr spät eine prägende Rolle zu spielen begannen. Es handelte sich hierbei um die Lebenswelt des polnischen Landadels, der jüdischen Händler und der weißrussischen und ukrainischen Bauern. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg begriffen sich die meisten Menschen dieser sozioökonomisch vernachlässigten Region noch als „Hiesige“ ohne ethnische oder nationale Zuordnung. Obgleich sich die politischen Grenzen im Rahmen von Nationalstaatsbildungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrmals willkürlich verschoben und das Gebiet des Urwalds dadurch letztendlich zerschnitten wurde, blieb die Bevölkerung in ihrer traditionellen Lebensweise verhaftet. In dieser Hinsicht setzten erst die sowjetischen Deportationen, die nationalsozialistischen Vertreibungen und der Holocaust im Zuge des Zweiten Weltkrieges Zäsuren. Darüber hinaus war der Urwald einerseits Rückzugsort für seltene Tiere und Pflanzen, und andererseits Jagdgebiet polnischer Könige, russischer Zaren, sowjetischer Generalsekretäre und wohlhabender Touristen aus aller Welt sowie zeitweise Schauplatz extensiver Ressourcennutzung, vor allem von Holz. Symbolisch für Białowieża steht der Wisent, das größte, während des Ersten Weltkrieges beinahe ausgerottete Landsäugetier Europas. Einzigartig ist die Geschichte seiner Wiederaufzucht und Auswilderung.
Das Projekt setzt sich zum Ziel, eine kulturwissenschaftlichen Standards folgende Monographie über konkurrierende räumliche Konzepte zu dem 1932 in der Zweiten Polnischen Republik gegründeten und 1991 durch die Republik Belarus erweiterten Nationalpark vorzulegen, der sowjetischerseits seit 1957 als exklusiver Staatsforst diente. Im Vordergrund stehen Fragen der institutionellen und personellen Durchherrschung der Region unter verschiedenen politischen Ordnungen, vor allem im Hinblick auf den Umgang mit der Natur als Ressource und Reservat, sowie der Alltag der Bevölkerung und ihrer Konfrontation mit äußeren Faktoren und der vertrauten Lebenswelt. Angestrebt wird sowohl ein regional-mikrohistorischer als auch ein transnational-makrohistorischer Zugriff auf eine in den jeweiligen Erinnerungskulturen stets präsente Region vor dem Hintergrund der oftmals dramatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.