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Archaeology meets Psychology

 

 

Digitale und immersive Technologien spielen aktuell eine zentrale Rolle in Forschung und Wissensvermittlung. Die Klassische Archäologie der JLU Gießen, die bereits seit 2018 intensiv den Einsatz von digitalen Interaktionstechnologien im musealen Kontext sowie in der Lehre erprobt, geht nun auch in der Forschung neue Wege. In Kooperation mit der Allgemeinen Psychologie werden im Rahmen eines Virtual-Reality-Experiments anhand von 3D-Modellen antiker Skulpturen Wahrnehmungsstrukturen per Eye-Tracking erforscht.

 

Befasst man sich wissenschaftlich mit Bildwerken, kann es für ein vertieftes Verständnis interessant sein, auch zu untersuchen, wie Betrachtende diese Darstellungen wahrnehmen und auf sie reagieren. Für die klassisch-archäologische Forschung, die sich ganz zentral mit den Bildwerken der griechischen und römischen Antike beschäftigt, stellt genau dies jedoch eine Herausforderung dar, da die zeitgenössischen, antiken Betrachtenden heute nicht mehr beobachtet oder befragt werden können.

In einem Kooperationsprojekt der Klassischen Archäologie und dem Team Perception & Action der Allgemeinen Psychologie der JLU untersuchen wir derzeit, inwieweit sich die Klassische Archäologie die Methoden der modernen Wahrnehmungsforschung zu eigen machen kann, um das Verständnis davon zu vertiefen, wie Menschen in der Antike ihre Bildwerke und damit auch ihre Welt sahen.

Das Projekt fokussiert sich auf Bildwerke aus einer Zeit elementaren Wandels in der Bildkomposition: In der Zeit des Hellenismus, im 3. Jh. v. Chr., entstand in der Folge der Eroberungen Alexanders des Großen nicht nur eine neue Ordnung der antiken Mittelmeerwelt, sondern es veränderte sich auch die Sicht der Menschen auf diese Welt. Dies suggeriert zumindest die Evidenz der dreidimensionalen Großplastik dieser Zeit, die nicht mehr aus einer Ansicht erfasst werden konnte, sondern nur dadurch, dass Betrachtende sich dynamisch um Statuen wie etwa jene des sogenannten Galliers Ludovisi herumbewegten und das jeweils Erblickte für sich zu einem Gesamteindruck zusammenfügten.

Diese Mehransichtigkeit lief den Kompositionsprinzipien der Skulptur in der Zeit vor und nach dem 3. Jh. v. Chr. zuwider: Dort präsentierten sich Skulpturen als von einer einzigen Ansicht aus voll erfassbar und unterstützten damit eine statische Form der Betrachtung, die zu Distanz und Reflexion und nicht zu einem immersiven Erlebnis einlud, wie dies bei den Skulpturen des 3. Jhs. v. Chr. der Fall gewesen zu sein scheint.

Das Projekt untersucht nun, wie sich moderne Betrachtende um diese mehransichtigen Skulpturen bewegen und vergleicht dies mit den Bewegungs- und Betrachtungsmustern bei der Begegnung mit einansichtigen Skulpturen. Ziel ist es zu eruieren, ob sich jeweils spezifische Muster für die unterschiedlichen Kompositionstypen feststellen lassen und zugleich, ob die Mehransichtigkeit der Skulpturen des 3. Jhs. v.Chr. durch Kipp-Punkte in der Komposition generiert wird – ob es also immer wieder spezifische Punkte an einer Statue sind, die Betrachtende dazu bringen, sich weiter- bzw. zurückbewegen. Die zugrundliegende Hypothese ist, dass sich – bei Feststellung von klar differenzierten Bewegungs- und Betrachtungsmustern zwischen den Kompositionstypen – die Evidenz der modernen Betrachtungswege auch für antike Betrachtende postuliert werden kann. Zugleich bietet das Beispiel der antiken Skulpturen für die moderne Wahrnehmungsforschung einen interessanten Gegenstand dafür, die Interaktion von Menschen mit komplexen Objekten im Raum zu untersuchen – und auch, wie menschliche Wahrnehmungsstrukturen durch immersive Technologien beeinflusst werden.

Zur Untersuchung wurde ein Experiment in einer Virtual Reality (VR) Umgebung entworfen, in welcher die Probandinnen und Probanden jeweils 12 Statuen unterschiedlicher, also ein- oder mehransichtiger Art, betrachten und umlaufen, während ihre Bewegungen im Raum und die Verweildauer der Augen per eye-tracking aufgenommen werden, um priorisierte Ansichten und potenzielle Kipp-Punkte in der Skulpturanlage zu identifizieren. Abgesichert werden die Ergebnisse durch einen Vergleich der Datensets mit Fotografien der favorisierten Skulpturansichten, die die Probandinnen und Probanden in einem zweiten Schritt des Experiments in der virtuellen Realität anfertigen dürfen.

Diese Versuchsanordnung ermöglicht es, das Verhalten der Probandinnen und Probanden in einer von ihnen als natürlich empfundenen Umgebung zu analysieren und gleichzeitig die Kontrolle über die Umgebung sowie auch über die den Probandinnen und Probanden gestellten Aufgaben zu behalten, ohne das natürliche menschliche Verhalten durch eine realitätsferne, stark verarmte Laborumgebung zu beeinflussen.

Bereits die Auswertung der Datensets einer ersten Testgruppe von lediglich drei Probandinnen und Probanden hat nun gezeigt, dass deutliche Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von „einansichtig“ und „mehransichtig“ komponierter Großplastik zu beobachten sind, nicht nur in Bezug auf die Bewegung im Raum, sondern auch in Bezug auf die Verweildauer vor unterschiedlichen Ansichtsseiten der Skulpturen.

Die Visualisierung der überlagerten Probandenbewegungen rechts in Abb. 1 zeigt die Auseinandersetzung der Teilnehmenden mit einer „einansichtigen“ Skulptur. Hier liegt der Fokus der Betrachtung eindeutig auf der Vorderseite eben dieser. Während nur einer der drei Probanden diese Skulptur recht zügig in einer gleichmäßigen Bewegung umrundet hat, bietet sich in der Visualisierung der überlagerten Probandenbewegungen links, die die Interaktion der Teilnehmenden mit einer „mehransichtigen“ Skulptur darstellt, ein ganz anderes Bild. Auch hier wird zwar die frontale Begegnung mit der Statue favorisiert, jedoch fallen die raumgreifenden Bewegungsmuster der Teilnehmenden deutlich ausgeprägter aus. Nicht nur umrunden sämtliche Teilnehmenden diese Skulptur, sondern sie zeigen durch die intensive räumliche Erkundung und die ausgedehnte Verweildauer gesteigertes Interesse an unterschiedlichen Ansichten.

Die detaillierte Auswertung der gegenwärtig durchgeführten Tests steht noch aus und zugleich deuten die bisherigen Ergebnisse darauf, dass sich die Wirkung der unterschiedlichen Kompositionstypen klar differenzieren und damit potentiell auch kulturgeschichtlich aussagekräftig interpretieren lässt.

Zugleich zeitigte das Experiment auf anderer Ebene eine wichtige Erkenntnis, die gut zu anderen Erfahrungen in der Arbeit in der Abteilung für Klassische Archäologie passt und die wir zukünftig nun noch umfassender in die Lehre an der JLU verankern wollen: Wir setzen in der Lehre und im Museumskontext seit längerem 3D-Modelle von antiken Artefakten und Stätten dazu ein, um immersive und intensive Lernerlebnisse im Rahmen der Verschmelzung von objektiver und subjektiver Annäherung zu befördern. Im gegenwärtigen Experiment beobachteten jene Probandinnen und Probanden, die zur Gruppe der Studierenden der Klassischen Archäologie gehörten, dass sie sich in der VR-Umgebung deutlich intensiver der Betrachtung der Skulpturen widmeten, als dies der Fall ist, wenn sie – wie im Studium üblich – derartige Statuen in zweidimensionaler Fotografie betrachten. Da die Bilddiagnostik der Kern jeglicher klassisch-archäologischer Arbeit ist, müssen Technologien, die die intrinsische Motivation dazu erhöhen, einen zentralen Platz in der Ausbildung der zukünftigen wissenschaftlichen Generationen einnehmen.

Ansprechpartnerinnen: Prof. Dr. Katharina Lorenz und Dr. Claudia Schmieder