Eros mit Gans
Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai
Beschreibung: Ein geflügelter Knabe, der sich an einen Pfeiler lehnt und einen langhalsigen Vogel im linken Arm hält, steht auf einer niederen quaderförmigen Basis. Das rechte Bein ist gestreckt, das linke in Hüfte und Knie leicht gebeugt, ein wenig vorgestellt und abgespreizt. Unterhalb des Schambergs erkennt man die Genitalien. Zwischen dem linken Bein und dem Pfeiler deuten sich dünne Gewandfalten an. Der rechte Arm liegt mit angewinkeltem Ellenbogen vor dem Körper; der linke ruht mit dem Unterarm auf dem Pfeiler während die Hand den gestreckten Hals des Tieres umfasst.
Der Kopf des Knaben neigt sich entschieden nach rechts und dreht sich dabei leicht nach links. Eng anliegendes kinnlanges Haar ist auf dem Scheitel zu einem Zöpfchen geflochten. Im rundlichen Oval des Gesichts sind die Wangen plastisch hervorgehoben.
Kommentar: Der an einen Pfeiler gelehnte kindliche Eros mit Gans ist in Kampanien gut belegt. Außer in Capua[1] wurden weitere Exemplare u. a. aus einem Fundkomplex in Teano (Teanum) geborgen[2].
Seit dem frühen 4. Jh. v. Chr. gehören Scheitelzöpfe zur Darstellung kindlicher Haartrachten in Griechenland[3]. Andere Merkmale der frühen Kinderzeit, die auch an den Terrakotta-Eroten aus Kampanien beobachtet werden können, sind die verhältnismäßig großen Köpfe, füllige Bäuchlein und rundliche Schenkel. Die Verbindung der Erosfigur mit Gans und Pfeiler lässt an die Marmorstatue aus Lilaia denken[4], die sich jedoch schon im Standmotiv mit überkreuzten Beinen und den schlanken, gestreckten Oberschenkeln von jenem unterscheidet[5]. Auch der kugelrunde Kopf mit dem mächtigen Gesichtsschädel, der das kleine Untergesicht mit den nah aneinander gerückten Sinnesorganen und den Pausbacken völlig dominiert, steht im Gegensatz zu dem ovalen Köpfchen des Gießener Eros, dessen Konturlinie sich eher mit dem Kopf des lysippischen Eros vergleichen lässt[6]. Die glatten länglichen Wangen breiten sich bei den Terrakottastatuetten mehr in die Fläche aus, was den Blick auf die Vorderansicht zu begrenzen scheint.
In den Tonfiguren verbinden sich zwei Motive, nämlich das des nackten Knaben, der an einen Pfeiler gelehnt einen langhalsigen Vogel[7] hält (drückt), und dasjenige des geflügelten Eros. Diese Kombination hat sichtlich ihren Schwerpunkt in Kampanien, wo die Tonfiguren auch, vermutlich zwischen 340 und 310 v. Chr.[8] konzipiert worden sind.
Einordnung: Ende des 4. Jhs. v. Chr., aus Kampanien (Capua, Teano/Teanum).
[1] L. Melillo Faenza, Il santuario del fondo Patturelli, in: Il Museo Archeologico dell’Antica Capua (Neapel 1995) 62 f. Abb. in der Mitte der Sammelaufnahme; weitere Parallelen in Capua, Museo Campano, Wamser-Krasznai, ungedruckte Magisterarbeit Gießen 1996 , 62-70 Abb. 2 Taf. 38; Winter 2 1903, 284, 10; A. Scatozza Höricht, Le terrecotte figurate di Cuma del Museo Archeologico Nazionale di Napoli (Rom 1987) 86 Taf. 17 b; ferner aus der Umgebung von Tarent: stark beschädigter Eros mit derselben Form und Haltung des Kopfes im umgekehrtem Standmotiv, M. R. Palumbo, Le terrecotte figurate di Tipo Greco in Daunia, Peukezia e Messapia (Galatina/Lecce 1986) 109 Nr. 540 Taf. 26.
[2] u. a. Netzlekythen, lokale Schwarzfirniskeramik und kampanische Münzen mit dem Kopf des Mars, die an den Anfang des 3. Jhs. v. Chr. weisen, W. Johannowsky, Relazione preliminare sugli scavi di Teano, BdA 1963, 148. 151 Abb. 14 m.
[3] Chr. Vorster, Griechische Kinderstatuen (Köln 1983) 218. Eine Kopie des lysippischen Eros in Baltimore (Kopf) soll aus Capua stammen, E. D. Reeder, Hellenistic Art in the Walters Art Gallery (Princeton 1988), 78, Nr. 7; P. Moreno (Hrsg.), Lisippo. L’arte e la fortuna (Monza 1995), 118-121 Abb. 4.15.V
[4] Athen, NM, Inv. 2772, Abb. z. B. bei H. Rühfel, Das Kind in der griechischen Kunst (Mainz 1984), 227 f. Nr. 95 Farbtafel bei S. 241.
[5] Zum Standmotiv s. Vorster 1983, 161 f. 349 Anm. 172.
[6] Lisippo. L’arte e la fortuna (Monza 1995), 118-121 Abb. 4.15.V.
[7] H. Rühfel beschränkt sich auf die Bezeichnung „Spieltier“ oder „Spielvogel“, dies. a. O. 227 . 230.
[8] Um den Vergleich mit zwei berühmten großformatigen Marmorstatuen noch einmal zu bemühen, annähernd zwischen dem Eros des Lysipp und dem Knaben aus Lilaia; zur Datierung Vorster 1983, 161 f.