Frauenkopf mit Polos und Schleier
Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai
Beschreibung: Ein breiter niederer Polos bedeckt den Kopf. Über das asymmetrisch gescheitelte, in Buckel- und Hakenlocken differenzierte Haar fällt ein Schleier in weichen Falten. Das Gesicht ist oval, mit hoher Stirn und vollen, in ein breites Kinn übergehenden Wangen. Die großen, leicht hervortretenden Augen sind von schmalen Lidern eingefasst, wobei das obere, den kaum markierten Brauen entsprechend, einen hohen Bogen bildet, während das Unterlid waagerecht verläuft. Die vollen Lippen sind geschlossen. In der Seitenansicht des Kopfes zeigt sich das fliehende Profil.
Kommentar: Der Schleier legt zwar nahe, dass es sich um den Kopf einer Frau handelt[1], doch wie eine Parallele in Udine zeigt[2], scheuten sich Tarentiner Tonbildner (Koroplasten) gelegentlich nicht vor der Kombination eines in dieser Weise geschmückten Kopfes mit dem nackten Oberkörper eines zum Symposion gelagerten Mannes. So können wir der Benennung von Inv. T I-12 als weiblich nicht restlos sicher sein.
Aus den Abmessungen ist auf eine ursprüngliche Höhe der Figur von etwa 25 cm schließen. Ob es sich ggf. um eine stehende oder um eine thronende Gestalt handelt, lässt sich nach dem Kopffragment nicht entscheiden. Die ungewöhnliche Asymmetrie des Scheitels könnte beim Herausnehmen des noch formbaren Produkts aus der Matrize entstanden sein; Parallelen zeigen nämlich bogenförmig frisiertes ungescheiteltes Stirnhaar oder einen Mittelscheitel[3].
Charakteristisch für Tarentiner Werkstätten sind die Breite des Gesichts in Augenhöhe und der relativ große Abstand zwischen den Augen selbst[4], ebenso das betonte Kinn, das bisweilen sogar markant aus einem fliehenden Profil hervortritt[5], sowie der breite, niedere Polos[6].
Die rundplastische Wirkung des Kopfes, das schwere Untergesicht mit kaum bewegten Wangen, die gewölbten Augäpfel und vollen Lippen sowie eine Haartracht aus dicken, teilweise zu Haken umgeformten Buckellocken, sind Merkmale frühklassischer Zeit[7].
Die Statuette war vermutlich als Weihgabe gedacht. Ein Attribut, das sich auf eine bestimmte Gottheit beziehen lässt, wie etwa eine Kreuzfackel auf die chthonischen Göttinnen[8], ist nicht zu erkennen.
Einordnung: Mitte des 5. Jhs. v. Chr., aus Tarent.
[1] vgl. E. de Juliis – D. Loiacono, Taranto. Il Museo Archeologico (Mailand 1985), 338 f. Abb. 404; abweichend in der Form: niederer rundlicher Polos: E. Lippolis – S. Garaffo – M. Nafissi, Taranto. Culti Greci in Occidente I (Tarent1995) 58 f. Taf. 18, 1.
[2] Die Autorin hält das Figurenfragment für weiblich, M. Rubinich, Ceramica e coroplastica dalla Magna Grecia nella collezione de Brandis. Udine (Triest 2006) 208 Nr. 294.
[3] H. Herdejürgen, Die Tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. im Antikenmuseum Basel (Basel 1971) 38 Nr. 7 und 6 Taf. 1; N. Poli, Collezione Tarentina del Civico Museo di Storia ed Arte (Triest 2010) 65 Nr. 32 Taf. 74 und S. 82 f. Nr. 67 Taf. 87.
[4] siehe dazu Köpfe wie: U. Hübinger – M. Menninger, Terrakotten der Westgriechen im Akademischen Kunstmuseum der Universität Bonn (Rahden/Westf. 2007) 94 f. Abb. 13 f.; S. 97 Abb. 17; S. 111 f. Abb. 34.
[5] U. Hübinger – M. Menninger a. O. 137 Abb. 64 b. c..
[6] H. Herdejürgen, Die Tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. im Antikenmuseum Basel (Basel 1971) 40 Nr. 12 und S. 43 f. Nr. 22. 23, alle Taf. 7.
[7] U. Hübinger – M. Menninger, Terrakotten der Westgriechen im Akademischen Kunstmuseum der Universität Bonn (Rahden/Westf. 2007) 131 Nr. 56; dies. 138-140 Nr. 66; H. Herdejürgen, Die Tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. im Antikenmuseum Basel (Basel 1971) 43 Nr. 20 Taf. 5. Zu den hohen Brauenbögen bei waagerechten Unterlidern ebenda, 40 Nr. 12 Taf. 7.
[8] N. Poli, Collezione Tarentina del Civico Museo di Storia ed Arte (Triest 2010) 149 Nr. 170 Taf. 154.