Böotisches Brettidol
Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai
Böotisches Brettidol Inv. T I-2 Provenienz: unbekannt.
Massiv. Vorderseite des Kopfes aus der Matrize, Körper von Hand geformt, Rückseite flüchtig geglättet. Polos, Schmuckscheiben und Haarsträhnen angesetzt. Fein gemagerter ockerfarbener (10 YR 7/4) Ton mit geringen sandigen Einschlüssen. Weiße Engobe an Gesicht und Polos. Reiche, zum Teil unvollständig erhaltene Bemalung mit hellbrauner und schwarzbrauner Farbe an Gewand und Armstümpfen. Am Gewand auch rotbraun, an den Schmuckscheiben rot. Pupillen schwarz. Erhaltung:linke Haarsträhne verloren, rechts kleine Fehlstelle an der Schläfe. Schräge Bruchlinie im unteren Drittel des Halses, verstrichen; sonst intakt. Maße: H: 19,1 cm; B in Höhe der Basis: 8,2 cm; in Höhe der Arme 8,6 cm; T: in Körpermitte 1,6 cm; Tiefe des Kopfes in Höhe des Mundes: 3,0 cm; Polos-Durchmesser: 2,5 cm. Lit.: M. Recke, Antike Kunst aus der Sammlung der Justus-Liebig-Universität (Gießen 2010) 22. 27, Nr. 44; W. Zschietzschmann, Gießener Antiken, in: Hessische Heimat 15/18. 7. 1962, 58 Abb. 3. |
Beschreibung: Die Figur steht auf dem ausgestellten unteren Abschnitt des Gewandes. Der Körper ist leicht konkav gewölbt. Die kurzen Armstummel enden spitz. Auf dem breiten langen Hals sitzt ein hochgereckter Kopf den ein mäßig hoher, mit Schmuckscheiben verzierter Polos bekrönt.
Feine Haarbögen umrahmen Stirn und Schläfen. Lange Strähnen fallen in Form breiter, plastisch aufgelegter Bänder auf die Schultern. Aus dem ovalen Gesicht springt das Kinn spitz vor. Die weit auseinander stehenden großen Augen sind von schmalen, plastisch gearbeiteten Lidern eingefasst. Kleine schwarze Punkte bezeichnen die Pupillen. Die Nase ist kräftig, der Mund breit, mit vollen Lippen und angehobenen Mundwinkeln.
Das Gewand zeigt Bänder mit Fischgrätmuster, dazwischen gekreuzte Linien und am Saum vertikale Strichgruppen. Punkte und Striche auf den Armstümpfen. Feine senkrechte Wellenlinien deuten eine Halskette an.
Auf den Schmuckscheiben Kreuze, in den Segmenten Punkte. Waagrechte Linien auf den seitlichen Haarsträhnen erinnern an die Stufenfrisuren dädalischer Zeit. An der Rückseite eine Gruppe vertikaler Wellenlinien über der Körpermitte, seitlich jeweils schräg gesetzte Strichgruppen.
Kommentar: Die Statuette zeigt einige Merkmale böotischer „Vogelkopfidole“: sie steht ohne Stütze und ist in der Seitenansicht flach konkav konturiert. Außerdem: plastisch aufgelegte Haarsträhnen[1], Schmuckscheiben am niederen Polos[2], spitz zulaufende kurze Armstümpfe[3]. Der Kopf ist jedoch nicht vogelartig sondern anthropomorph gestaltet und nicht von Hand sondern aus der Matrize geformt[4].
Gegenüber den ‚korinthisierenden‘ Statuetten mit ihren strahlenden Farben, dem schmalen rechteckigen Körper und hohem Polos[5] wirkt das Gießener Exemplar untersetzt und etwas unscheinbar.
Die Figur dürfte um die Mitte des 6. Jhs. v. Chr., bevor sich die böotische Koroplastik ganz der Mattmalerei verschrieben hat[6], entstanden sein. Parallelen aus datierbarem Grabzusammenhang in Rhitsona[7] bestätigen den zeitlichen Ansatz.
Einordnung: um 550 v. Chr., Böotien.
[1] R. A. Higgins, Greek Terracottas (London 1967) 45 f. Taf. 18 b. d.
[2] Marangou 1985, 127 Nr. 184 (Zahlen in der Abbildung vertauscht); Schmuckscheiben am Polos von sitzenden Idolen: S. Mollard-Besques 1954, B 61; B 76. Das Motiv der Schmuckscheibe könnte auf argivischen Einfluss hinweisen, Szabó 1994, 69. 96-101.
[3] Higgins 1967, 45 f. Taf. 18 a. c; Zahlhaas 1985, 87 f. Nr. 34 Farbtaf. 22.
[4] Vgl. P. Blome (Hrsg.), Orient und frühes Griechenland (Basel 1990) 95 Nr. 142.
[5] Grace 1969, 31 Abb. 20. 21.
[6] Szabó 1994, 69.
[7] Ure 1934, 55 Nr. 49.426 Taf. 13.