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Weibliche Gewandfigur, "Tanagräerin"

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

Weibliche Gewandfigur, "Tanagräerin", Inv. T I-18

Provenienz: unbekannt.

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite nicht ausgearbeitet, geglättet, großes rechteckiges Brennloch.

Feiner rötlicher (2.5YR 6/6) Ton ohne Einschlüsse. Fast vollständig von weißer Engobe überzogen, keine Farbspuren.


Erhaltung: Fehlstelle an der linken Seite des Halses und am linken Fuß, sonst intakt.

Maße: H: 14,1 cm; größte Breite: 5,6 cm; Breite der Basis: 4,7 cm; Tiefe der Basis: 3,8 cm; Tiefe in der Mitte der Figur: 3,0 cm.

Lit.: Unpubliziert.

 

Beschreibung: Auf einer niederen rechteckigen Plinthe, die auf der Rückseite gerundet ist, steht eine Frauengestalt in langem Chiton und einem Mantel, der die Vorderseite bis zu den Knien vollständig bedeckt. Das rechte Bein ist entlastet zur Seite gestellt. Der Kopf neigt sich etwas nach vorn, der Oberkörper ist leicht zurückgelehnt.

Die vertikalen plastisch gewölbten Falten des Chitons reichen bis zum Boden und auf die Schuhspitzen, wo sich der Stoff ein wenig staut. Der Mantel umhüllt den Hals, bedeckt das Hinterhaupt und fällt locker über den in die Seite gestützten rechten Arm. Zahlreiche Quer- und Schrägfalten, die wegen der dicken Engobe-Schicht wie eingeebnet wirken, beleben die breite Fläche des Stoffes. An der rechten Körperseite erstreckt sich vom Ellenbogen bis zum Knie ein tiefes Faltental. Um den leicht gebeugt herab hängenden linken Arm schlingen sich dichte Mantelfalten. Nur die Hand, die einen Zipfel des Gewandes erfasst, ist unbedeckt; man erkennt die einzelnen Finger.

Der sphärische Kopf ist nicht nur nach vorn, sondern auch ein wenig zur linken Schulter hin geneigt. Dort sind Halspartie und Kinn-Wangen-Linie gegenüber der rechten Seite etwas verkürzt. Über der Stirn teilt sich das Haar und führt in zwei Strähnen zum ausladenden Hinterkopf. Im rundlichen Gesicht bilden Stirn und Nase fast eine Gerade; das Kinn weicht zurück. Die relativ kleinen Augen sind weit auseinander gerückt und die Brauen setzen bogenförmig an der Nasenwurzel an.

Kommentar: Den Gesamteindruck der Figur bestimmen die Fläche des Mantels und dessen kragenähnlich um den Hals geschlungener oberer Saum. Der in die Hüfte gestützte rechte Arm erinnert an die Porträtstatue des Sophokles[1], auch wenn es sich bei diesem Motiv um den anderen Arm handelt. Die weiblichen Terrakottafiguren in vergleichbarer Haltung sind bezüglich Standmotiv und Armbeugung nicht auf eine Seite festgelegt[2]. T I-18 lässt sich in die Gruppe mit gebeugtem rechten Arm und entlastetem rechten Bein einfügen. Wiederholungen und Varianten aus verschiedenen Gegenden Griechenlands und anderer Mittelmeerländer belegen die Beliebtheit des Typs[3].
Die Gießener Statuette ist auf Vorderansicht hin angelegt. An der Rückseite beschränkt sich die plastische Ausarbeitung auf die Wölbung des Hinterkopfs. Der linke Ellenbogen und die eng um den Arm gewickelten Mantelfalten lenken den Blick in die Tiefe und verleihen der Figur dreidimensionale Wirkung. Andere Exemplare desselben Typs breiten sich stärker in der Fläche aus[4]. Senkrecht herabfallende Chitonfalten begrenzen den Blick. Der Mantel schmiegt sich eng an den Körper und modelliert die Taille und den ausladenden rechten Ellenbogen. Die Figur scheint geradezu 'Front' gegenüber dem Betrachter zu machen. Mehr Bewegung vermittelt, mit heraus gedrückter linker Hüfte und der Einziehung des Stoffes zwischen den Oberschenkeln, eine kampanisch-mittelitalische Statuette[5]. Vom Gießener Exemplar mit seinem für das 3. Jh. v. Chr. charakteristischen pyramidalen Aufbau geht dagegen eine gewisse Ruhe aus.
Die Frage nach der Landschaftszugehörigkeit lässt sich nicht leicht  beantworten. Vergleichsstücke aus Böotien weichen in ikonographischer Hinsicht signifikant ab[6]. Auf Grund der rötlichen Tonfarbe und der bemerkenswerten Qualität könnte eine attische Werkstatt in Frage kommen[7]. Ähnlichkeit besteht mit einer besonders qualitätvollen sitzenden Frauengestalt vom Athener Kerameikos. Die Übereinstimmungen beziehen sich nicht nur auf die Kopfform und die Konturlinien und Merkmale des Gesichts, sondern betreffen auch die sorgfältige Ausarbeitung der Halsregion und die Haltung des linken Armes. In unmittelbarer Nähe der Sitzenden waren auf das Jahr 307 v. Chr. datierbare Münzen geborgen worden, sodass dieser Zeitpunkt als Terminus ante quem für den Fundkontext gelten kann[8]. T I-18 dürfte jedoch etwas später, am Anfang des 3. Jhs. v. Chr., entstanden sein.


Einordnung: Anfang des 3. Jhs. v. Chr.? Aus Attika?



[1] F. Rumscheid, Die figürlichen Terrakotten von Priene (Wiesbaden 2006) 186 f.

[2] La "Sophocléenne", V. Jeammet, Tanagra. Mythe et Archéologie (Paris 2003) 199-203.

[3] aus der Kyrenaika, L. Burn – R. Higgins, Greek Terracottas in the British Museum III (London 2001) 216 Nr. Nr. 2667. 2668 Taf. 105, mit kürzerem Mantel und abweichender Haltung des linken Armes aus Tanagra/Böotien, ebenda 45 f. Nr. 2043. 2044 Taf. 8; ebenfalls aus Böotien,F. Hamdorf, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München 2 (Lindenberg im Allgäu 2014) 182 f. D 86 (Mantel und Armhaltung wie Burn – Higgins a. O. Taf. 8 a und b); S. 183 D.87. D 88; aus Unteritalien ebenda 525 E 572; aus Ägypten, linker Arm leicht angehoben, R. A. Higgins, GreekTerracotts (London 1967) 130 Taf. 62 E; aus Athen, G. Kleiner, Tanagrafiguren (Berlin 1942 124 f. Anm. 9 Taf. 11 a; "aus Korinth", Torso, E. Schmidt, Katalog der antiken Terrakotten I Würzburg (Mainz 1994) 97 Nr. 141 Taf. 27; aus Myrina, ebenda 103 Nr. 151 Taf. 29 und S. Mollard-Besque, Myrina (Paris 1963) 94 Taf. 111a.

[4] So ein Torso aus Myrina, Mollard-Besques a. O. 1963, 100, Taf. 117f.

[5] G. Greco – A. Pontrandolfo, Fratte. Un insediamento etrusco-campano (Modena 1990) 114 f. 101 Abb. 210.

[6] Burn – Higgins a. O. Taf. 8 a und b; Hamdorf a. O. 182 D 86.

[7] Etwa die oben genannten zurückhaltenden Bewegungen und die asymmetrische Gestaltung von Untergesicht und Halsregion. Attische Vergleichsstücke: Athen, Nähe Agora, St. G. Miller, Menon'sCistern, Hesperia 43, 1974, 217-219 Nr. 103. 104. T 2474 Taf. 41; V. Mitsopoulos-Leon, Brauron. Die Tonstatuetten aus dem Heiligtum der Artemis. Die jüngere Phase (Athen 2015) 82 f. Nr. 42. 47 Taf. 7; Kleiner a. O. Taf. 11 a; B. Vierneisel-Schlörb,Die figürlichen Terrakotten. Kerameikos 15 (München 1997) 112 f. 121 f. Nr. 366 Tag. Taf. 65, 1.

[8] Vierneisel-Schlörb a. O. 130-132 Nr. 404 Taf. 70.