Ökonomischer Agnostizismus: Zweifel an monetärem Wissen in Literatur und Soziologie des 19. Jahrhunderts
Das durch die DFG geförderte Projekt (2024-2026) untersucht Problematisierungen von gesellschaftlichem Wissen über die Geldwirtschaft und den Bereich des Monetären im Frankreich des langen 19. Jahrhunderts. Es geht um die Art und Weise, in der Literatur und Soziologie die Möglichkeiten und Grenzen von Wissen und die Handlungsfähigkeit in monetär vermittelten Verhältnissen reflektieren und darüber Probleme individueller Ethiken wie gesellschaftlicher Ordnungen verhandeln. Gefragt wird nach Zweifeln an der Begründbarkeit, Beobacht- und Mitteilbarkeit sowie Reproduktivität monetären Wissens, die in Literatur und Soziologie artikuliert werden.
Ausgehend von dem Befund, dass sich die Ökonomie, insbesondere die sich im 19. Jahrhundert popularisierende und an politischer Bedeutung gewinnende Geldwirtschaft – explizit die Kredit- und Finanzwirtschaft –, zu einem zentralen Bereich gesellschaftlicher Verhältnisse entwickelt, tritt diese für die Zeitgenossen zunehmend auch als epistemisches Problem zutage. Als Problematik der Gesellschaft wird das Monetäre in erster Linie von der Romanliteratur und der entstehenden Soziologie thematisiert. Beide Diskurse raffinieren die Problematik als Kernkomponente des gesellschaftlichen Imaginären. Das Projekt erforscht dabei insbesondere, wie das Monetäre als epistemisches Objekt der Gesellschaft problematisiert wurde, d.h. in welcher Weise monetäres Wissen, sein Wissenswert, die Relevanz und die Grenzen monetären Wissens in Literatur und Soziologie als gesellschaftliches Problem thematisch und reflexiv wurden. Das Projekt unternimmt eine Rekonstruktion dessen, was wir als ‚ökonomischen Agnostizismus‘ bezeichnen: Die Frage lautet, durch welche literarischen und soziologischen Darstellungsformen die (Geld-)Wirtschaft als ein Bereich, über den Wissen nur begrenzt oder gar nicht möglich ist, für gesellschaftlich relevant gesetzt wird.
Der am Institut für Soziologie durchgeführte Projektteil widmet sich der französischen Soziologie, die sich mit der Bedeutung der durch die Industrialisierung ausgelösten gesellschaftlichen Umbrüche befasste und insofern ein gesteigertes Interesse an makroökonomischen Prozessen und ihren Folgen aufwies. Hierzu werden Untersuchungen (1) im Umfeld von Frédéric Le Plays ‚économie sociale‘, die sich mit empirischen Untersuchungen der Arbeiterklasse und ihren budgetären und haushalterischen Praktiken befasste, durchgeführt. Weiterhin wird (2) der Kreis um Èmile Durkheim, dessen Angehörige, allen voran François Simiand, bei der Formierung eines allgemeinen soziologischen Paradigmas auch auf ökonomische Sachverhalte Bezug nahmen und in diesen einen Schlüssel zum soziologischen Verständnis der Gegenwartsgesellschaft sahen, untersucht.
Das Projekt wird gemeinsam mit Prof. Dr. Kirsten von Hagen, Institut für Romanistik, an der Justus-Liebig-Universität Gießen und einer weiteren Mitarbeiter:in durchgeführt.