Programmheft zum Konzert Ted Rosenthal im Zug des Projekts „Dear Erich“
Programminformation
Das Ted Rosenthal Trio in Gießen
Ein Konzert,
eine Familiengeschichte,
eine Begegnung,
Willkommen im Hermann-Levi-Saal der Stadt Gießen. Das Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik freut sich sehr, Sie heute Abend willkommen heißen zu dürfen. Was Sie heute Abend erwartet, ist kein gewöhnliches Konzert. Es geht heute um Musik und doch auch um viel mehr als Musik.
Der Anfang
Vor über einem Jahr bekam unser Dozent für Schlagzeug, Percussion und Jazz, Berthold Möller, einen Anruf aus den USA. Am anderen Ende der Leitung war sein Freund Paul Miller, der lange Jahre an der Penn State University in Pennsylvania gelehrt hatte und als Jazz-Experte auch jährlich für einen Workshop zu uns nach Gießen gekommen war. Paul erzählte Berthold, ein bekannter New Yorker Jazzmusiker wolle mit unserem Institut in Kontakt treten, da seine eigene Familiengeschichte mit der Stadt und der Universität verbunden sei. Berthold Möller nahm den Kontakt auf und die beiden begegneten sich zum ersten Mal online. Aus diesem initialen Moment heraus hat sich eine Zusammenarbeit mit jenem Musiker aus New York entwickelt, die im heutigen Konzertabend zwar einen Kulminationspunkt erreicht, aber weit darüber hinaus geht. Um das gemeinsame Projekt zu verstehen, müssen wir zunächst ins Jahr 1933 zurück gehen.
Ted Rosenthals Familiengeschichte
Ted Rosenthal wusste über den längsten Teil seines Lebens wenig über die Geschichte der Familie seines Vaters Erich, da Erich über die Vergangenheit kaum sprach. Erich war als Jude 1933 vom damaligen Rektor Adolf Jess der Universität in Gießen verwiesen worden. 1938 floh er nach New York und überlebte – anders als seine Eltern und die allermeisten Verwandten – den Holocaust. Sein Sohn Ted wurde 2015 zur Wiedereröffnung der alten jüdischen Schule in Bad Camberg eingeladen, dem Heimatort seiner Großmutter Herta. Vor seiner Reise begab er sich auf seinen Dachboden, um eine kleine Kiste mit alten Briefen seiner Großmutter an seinen Vater einzupacken. Die Briefe waren auf Deutsch und Ted traf in Camberg Dr. Peter Schmidt, der sie ihm später übersetzte. Alle Briefe datieren zwischen 1938 und 1942. Beim Lesen lernte Ted zum ersten Mal mehr über die Geschichte seiner Familie. Tief bewegt beschloss er, sich künstlerisch damit auseinanderzusetzen.
Dear Erich
Er komponierte die Jazz Oper Dear Erich und brachte sie 2019 mit der New York City Opera zur Uraufführung. In diesem Werk bilden die Briefe das Gravitationszentrum, nicht nur das des Librettos, auch das ihres emotionalen Kosmos. Es ist schwer, sich ein persönlicheres Momentum für die Komposition eines Kunstwerks vorzustellen als eine Familiengeschichte, die den eigenen Vater zum Schweigen über jene brachte. Dear Erich beschäftigte Ted Rosenthal auch nach der Uraufführung konstant weiter. Die Oper wurde nicht nur in mehreren Ländern aufgeführt, der Komponist wurde auch von ganz unterschiedlichen Institutionen von Universitäten bis zu Gedenkstätten zu Gesprächen und Workshops über Dear Erich eingeladen. In Gießen hat Dear Erich wiederum weitere und neue Wellen geschlagen.
Begegnungen in Gießen
Als Berthold Möller dem Team der Musikpädagogik am Musikinstitut vom Gespräch mit Ted Rosenthal berichtete, resonierte das bei den Zuhörenden. Rasch entwickelte sich die Idee, aus dieser Begegnung mehr zu machen als eine Einladung oder „nur“ ein Konzert. Dr. Sabine Schneider-Binkl (Vertretung der Professur für Musikpädagogik) formte und leitete ein Team, dass Dear Erich zum Anlass genommen hat, über das Werk und die damit verbundene eigene Geschichte mehr zu erfahren. Es geht darum, die Erinnerungskultur zu stärken. Im Rahmen der Bemühungen fand eine große Vernetzung mit Fachleuten innerhalb und außerhalb der JLU statt, die in einer Vortagsreihe im Sommersemester 2023 ihr Wissen aus unterschiedlichen Bereichen beisteuerten und Studierenden in einem eigens auf den Themenkomplex zugeschnittenen Seminar vermittelten. Gleichzeitig wollte das Team ein Konzert mit Ted Rosenthal veranstalten und begann, diverse Förderer anzuschreiben. Diese Bemühungen münden im heutigen Abend – doch damit endet unser Projekt nicht.
Ausblick
Ted Rosenthal befindet sich gerade mit seinem Trio auf einer Europa-Tournee. Die Oper in diesem Rahmen komplett aufzuführen hätte den Rahmen seiner (und vor allem unserer) Möglichkeiten gesprengt. Das heißt jedoch nicht, dass uns die Idee schon ganz losgelassen hat. Die Zusammenarbeit zwischen Ted Rosenthal und dem Musikinstitut soll insbesondere auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen an der JLU und Schulkooperationen fortgesetzt werden. Im kommenden Jahr wird es eine wissenschaftliche Veröffentlichung geben, die sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen Themen wie Erinnerungskultur, Extremismus Prävention oder auch dem ästhetischen Umgang mit dem Holocaust und anderen Menschheitskatastrophen annähert und die Ergebnisse studentischer Arbeiten dokumentiert. All dies ist heute nötiger denn je, denn die jüngsten Rucke nach rechts, der neue Populismus des 21. Jahrhunderts, der Krieg in Israel – all das sind die Zeichen unserer Zeit, und wir müssen sie beachten, wenn wir Freiheit und Demokratie bewahren wollen.
Wir möchten all unseren Förderer:innen danken und freuen uns darauf, Ted Rosenthal nun gemeinsam mit Ihnen live zu erleben.
Das Dear Erich Team
Dr. Sabine Schneider Binkl (Vertretung Professur Musikpädagogik)
Petra Dietz (Sekretariat Musikpädagogik)
Berthold Möller (Instrumentallehrer Schlagzeug und Percussion)
Steffen Peter (Wissenschaftlicher Mitarbeiter)
Johannes Kühn (Wissenschaftlicher Mitarbeiter)
Lukas Auradniczek (Studentische Hilfskraft)
Merlin Nikolcz (Studentische Hilfskraft)
Boris Wilde (Studentische Hilfskraft)
Unsere Zusammenarbeit mit Ted Rosenthal und das heutige Konzert wurden gefördert von:
Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich
Erwin-Stein-Stiftung
Gießener Hochschulgesellschaft
Kulturamt der Stadt Gießen
Kulturstiftung Gießen
Third Mission Fonds der JLU Gießen