Wer war Jhering?
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Rudolf von Jhering
Namensstifter des Gießener Instituts für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung, lehrte von 1852 – 1868 an der juristischen Fakultät der Universität Gießen. Als er mit dreiunddreißig Jahren den Ruf auf einen Lehrstuhl für römisches Recht an die Ludoviciana (so der damalige Name der heutigen Justus-Liebig-Universität) annahm, hatte Jhering bereits drei Professuren bekleidet: Basel (1845), Rostock (1846) und Kiel (1849). Nach sechzehn Jahren verließ er Gießen, um einen Ruf an die Universität Wien anzunehmen, dem schließlich eine weitere Berufung an die Universität Göttingen folgen sollte (1872). Rufe nach Leiden, Leipzig und Heidelberg hatte Jhering abgelehnt. Manch Späteren galt Jhering als der „größte deutsche Jurist“ (Hermann Kantorowicz). Fest steht, dass er einer der wirkungsmächtigsten deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts war, dessen wissenschaftlich-theoretischer und rechtspraktischer Einfluss bis weit in das 20. Jahrhundert reicht.
Rudolf von Jhering (seit 1872 geadelt) wurde am 22. August 1818 im ostfriesischen Aurich als Spross einer alteingesessenen Juristenfamilie geboren (zu seinen Vorfahren zählt der berühmte Polyhistor Hermann Conring). Er studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg, München, Göttingen und Berlin und promovierte dort unter der Betreuung Friedrich Rudorffs im Jahre 1842. Ein Jahr später habilitierte er sich (Gutachter waren Rudorff und Puchta); am 6. Mai 1843 hielt er als Privatdozent seine erste Vorlesung über „Principien des römischen Rechts“. Nach einer glänzend verlaufenen akademischen Laufbahn verstarb Jhering, mit seiner letzten Berufung an seinen ehemaligen Studienort Göttingen zurückgekehrt, dort am 17. September 1892.
Die Bedeutung Jherings und seines literarischen Werks erwächst vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rechtslandschaft und Rechtswissenschaft in Deutschland. Vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am 1. Januar 1900 gab es in Deutschland kein einheitliches Zivilrecht. Neben und über einzelnen Landesprivatrechten stand das „gemeine Recht“ (ius commune), das sich auf das römische Recht in seiner Überlieferung des corpus iuris Iustiniani (seit dem späten 16. Jahrhundert corpus iuris civilis genannt) aus den Jahren 533/534 n. Chr. stützte. Dieses römische Recht bildete die Grundlage eines allgemeinen Rechts, das zur Anwendung gelangte, wo lokale oder territoriale Rechtsregeln fehlten. Seit dem frühen 19. Jahrhundert war diese römischrechtliche Tradition Gegenstand einer Erneuerung der Rechtswissenschaft im Sinn der damals gegründeten „Historischen Rechtsschule“ geworden. Unter Führung Friedrich Carl von Savignys (1779–1861) hob diese Entwicklung die deutsche Zivilrechtswissenschaft bis zur Mitte des Jahrhunderts auf einen glänzenden dogmatisch-systematischen Stand, der ihr zu einem bis heute nicht mehr erreichten internationalen Ansehen verhalf. Dieses römische Recht („Pandektenrecht“) war zentraler Gegenstand des akademischen Unterrichts und fand als „gemeines Recht“ Anwendung in der Praxis.
Nicht nur die erste Vorlesung des jungen Privatdozenten („Principien des römischen Rechts“) spiegelt diesen Befund und Hintergrund wider, sondern auch Rudolf von Jherings weiteres Werk. Noch bevor er im Jahre 1852 nach Gießen kam, war der erste Band eines seiner beiden Hauptwerke bereits erschienen – „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“. In den Gießener Jahren folgten der zweite und dritte Teil. Schon in diesem Werk wendet sich Jhering – selbst ein exzellenter Dogmatiker, der als erster das Problem und den Begriff der culpa in contrahendo formulierte – gegen eine sich als geschlossenes begriffliches System verstehende Rechtswissenschaft („Begriffsjurisprudenz“). Er opponiert gegen einen „Cultus des Logischen“, der die rechtliche Relevanz praktischer Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten verleugnet, wenn das begriffliche System dafür keinen Stellplatz kennt („Die Unbilligkeit und praktische Trostlosigkeit eines solchen Resultats liegt auf der Hand; der culpose Theil geht frei aus, der unschuldige wird das Opfer der fremden Culpa!“). Auch für Jhering ist eine Rechtswissenschaft ohne Begriffe nicht denkbar, aber diese Begriffe sind Ableitungen der „Wirklichkeit“ des Rechts, und nicht umgekehrt bestimmen die Rechtsbegriffe, was die gesellschaftliche Ordnung als Rechtswirklichkeit anzuerkennen hat. Um diese „Wirklichkeit“ des Rechts geht es Jhering, um dessen „Prinzipien“, „letzte Gründe“, „Ursubstanz“. Das römische Recht steht für Jhering in seiner begrifflichen Klarheit als „Recht“ schlechthin. Der „Geist“ dieses Rechts ist allerdings kein historisches Datum, sondern sind die dynamisch-historischen Triebkräfte der Rechtsentwicklung insgesamt. Diese Gedanken als eine allgemeine Theorie des Rechts zu formulieren, darum geht es im „Geist des römischen Rechts“: „... und so ließe sich der Wahlspruch unserer heutigen Jurisprudenz in den Satz fassen: durch das römische Recht über das römische Recht hinaus.“
Die gegenwärtige rechtshistorische Forschung sieht nicht mehr wie früher eine scharfe Zäsur („Bekehrung“) zwischen dem „Geist des römischen Rechts“ und dem zweiten Hauptwerk Jherings, dem „Zweck im Recht“ (ab 1877). Beide Werke stehen in der Kontinuität einer dynamischen, wenngleich nicht stets bruchlosen Entwicklung. Mit großer Sprachgewalt und einer geradezu bildhauerisch-plastischen Darstellungsgabe kämpft Jhering im „Zweck im Recht“ um jene „letzte Quelle“ des Rechts, und er sieht sie in den tatsächlichen, praktisch wirkenden Daseinsbedingungen, unter denen sich eine Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft entwickelt, fortschreitet und verändert. Diese Entwicklung sieht Jhering durch ein „praktisches Motiv“ gesteuert, und dieses Motiv gibt zugleich das eigentliche Agens des Rechts und der Rechtsentstehung. Jhering nennt es den „Zweck“: „Der Grundgedanke des gegenwärtigen Werkes besteht darin, daß der Zweck der Schöpfer des gesamten Rechts ist, daß es keinen Rechtssatz gibt, der nicht einen Zweck, d. h. einem praktischen Motiv seinen Ursprung verdankt. [...] das Recht kennt nur eine Quelle, das ist die praktische des Zwecks.“
Mit diesen kritischen, grundlegenden Forschungen hat Rudolf von Jhering in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Bresche für das sich neu formierende Fach der Rechtssoziologie geschlagen, sondern auch entscheidende Impulse für eine moderne Entwicklung der Rechtsdogmatik im Sinne der dann im 20. Jahrhundert führend gewordenen Interessenjurisprudenz (Philipp Heck) und einer soziologisch begründeten Strafrechtstheorie (Franz von Liszt) geliefert.
Jherings bedeutsamste Beiträge für die Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik waren seine Neuinterpretation des subjektiven Rechts als rechtlich geschütztes Interesse, die „Entdeckung“ der culpa in contrahendo und die Unterscheidung zwischen objektiver Rechtswidrigkeit und Schuld (mit weitreichender Bedeutung auch für die Strafrechtsdogmatik).Hauptwerke:
- Abhandlungen aus dem römischen Recht, 1844;
- Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3 Teile, 1852-1865;
- Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, 1867;
- Der Kampf ums Recht, 1872;
- Der Zweck im Recht, 2 Bände, 1877-1883;
- Gesammelte Aufsätze aus den „Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“, 3 Bände, 1881-1886;
- Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884;
- Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode, 1889.
Prof. Dr. Martin Lipp
Eine (keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende) Bibliographie finden Sie hier.