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Geschichte

Geschichte

Gründungszeit

 

1982 von Andrzej Wirth gegründet, war das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft die erste universitäre Einrichtung im deutschsprachigen Raum, die das Studium der Theaterwissenschaft mit einem Studium der künstlerischen Theaterpraxis verbinden sollte. Unter Wirth und der Mitarbeit von Hans-Thies Lehmann entwickelte sich das Institut auf der einen Seite schnell zu einem Gegenpol zu etablierten Schulen der darstellenden Künste, die Theater ausschließlich als Schauspiel auf der Grundlage von Dramen verstanden und ihre Studierenden für einen etablierten Stadttheatermarkt ausbildeten. Auf der anderen Seite bildete es auch einen Gegenpol zu anderen Theaterwissenschaftsinstituten, die der Praxis keinen Raum gaben und Theaterwissenschaft vor allem als Theaterhistoriographie verstanden. Auf der neu eingerichteten Probebühne suchten Wirth und Gastprofessorinnen und Gastprofessoren wie Heiner Müller, George Tabori, Emma Lewis Thomas oder Robert Wilson gemeinsam mit den Studierenden nach neuen Theaterformen, die das Monopol des deutschsprachigen Stadttheaters auf das Machen und die Definition von Theater infrage stellten. Von Wirth und seiner Wahl der Gastprofessoren geprägt, beschäftigten sich einige frühe Arbeiten der Studierenden etwa mit der Tradition von Brechts Lehrstück und minimalistischen Tendenzen aus der bildenden Kunst. Lehmann arbeitete parallel an einer Theorie ebenjener theatralen Ansätze, die sich nicht mehr mit den bis dahin bekannten Theorien der Darstellung auf Basis von Drama und Schauspiel erfassen ließen. Heute sind diese Theaterformen durch Lehmanns Begriffsbildung als postdramatisches Theater bekannt.

 

 

Die 1990er- und 2000er-Jahre


(c) Malte Scholz
In den 90er-Jahren übernahmen die Theaterwissenschaftlerin Helga Finter und der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels die wissenschaftliche und künstlerische Leitung des Instituts. Goebbels erweiterte die künstlerische Lehre hin zu neuen medialen Darstellungsformen und Musik-, Klang- und Lichtinszenierungen. Mit der Einrichtung von Ton- und Videostudios ließ er die nötige Ausstattung für die eigenständige Arbeit mit den neuen Medien schaffen. In der Wissenschaft setzte Finter neue Schwerpunkte, indem sie die Theatralität der Theater- und Literaturexperimente der historischen Avantgarden, insbesondere von Antonin Artaud, vermittelte. Auch die Arbeiten von Wilson und anderen zeitgenössischen Regisseuren und Künstlern wie Klaus Michael Grüber zählten zu jenen Untersuchungsgegenständen, die Finter zu einer Theorie des Theaters als Verhandlungsraum der Subjektivität in Absetzung zu einer sich immer weiter formierenden Gesellschaft des Spektakels führten. Die Tradition der Gastprofessuren wurde mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Theoretikerinnen und Theoretikern wie etwa Marina Abramović, Richard Schechner, Patrice Pavis, Josette Feral, Samuel Weber, Georg Seeßlen, Mathilde Monnier, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Rabih Mroué, Tino Sehgal oder Claudia Bosse bis heute fortgesetzt und bildet immer noch einen entscheidenden Einfluss für das Institut.

2008 schließlich erfolgte mit der Einführung des Master-Studiengangs Choreographie und Performance und einer Professur für Tanzwissenschaft mit dem Schwerpunkt Choreographie und Performance eine weitere Öffnung auf das Feld des zeitgenössischen Tanzes und der Choreographie. Es wurden damit jene ersten Impulse zur Beschäftigung mit der Ästhetik des Tanzes fortgeführt und strukturell verankert, die schon in den 90er-Jahren von Gabriele Brandstetters Tätigkeit als kurzzeitiger Professorin am Institut ausgingen. Der MA-Studiengang Choreographie und Performance wird in Kooperation mit der Abteilung für zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main angeboten und wurde in den ersten Jahren seines Bestehens von Gerald Siegmund aufgebaut. Wie die bestehenden Studiengänge des Bachelors und des Masters Angewandte Theaterwissenschaft ermöglicht das MA-Studium Choreographie und Performance eine zugleich wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung, allerdings insbesondere mit dem Fokus auf den Körper, seine Bewegung, aber auch seine Politik und Ökonomie.

 

Das Institut heute


Heute sind vier Professuren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft angesiedelt, wovon drei permanent besetzt sind: Aktuell hat Xavier Le Roy die künstlerische Professur inne, Gerald Siegmund hält seit 2011 die Professur für Theaterwissenschaft und Bojana Kunst hat 2012 die Professur für Tanzwissenschaft angenommen. Die vierte Professur ist die künstlerische Gastprofessur, die jedes Semester mit wechselnden Künstlerinnen und Künstlern besetzt wird. Bildeten in den 80er und 90er-Jahren insbesondere die konventionellen und limitierenden Theaterpraktiken und -vorstellungen des deutschsprachigen Stadttheatersystems den Kontext und negativen Bezugspunkt der wissenschaftlichen und künstlerischen Lehre und Forschung am Institut, stehen heute, angesichts des Bedeutungsverlusts der Stadttheater und großer Veränderungen in der gesamten Theaterlandschaft, andere Verhältnisse im Zentrum der Debatten: die Ambivalenzen einer freien Szene, deren Internationalisierung und deren Arbeitsbedingungen aufgrund verschärfter ökonomischer Zwänge neue Herausforderungen und Probleme für die Produktion, aber auch für die Ästhetik des Theaters der Gegenwart aufwerfen.

Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gewinnt sein produktives Eigenleben seit seinem Bestehen nicht zuletzt durch ein hohes Maß an Eigeninitiative seiner Studierenden. Seit vielen Jahren richten die Studierenden in vollkommener Eigenregie mehrere Festivals aus: die Theatermaschine, eine Präsentationsplattform für die eigenen künstlerischen Arbeiten der Studierenden; den Diskurs, der seit 1984 organisiert wird und heute ein anerkanntes internationales Festival der performativen Künste ist, zu dem jedes Jahr Künstlerinnen und Künstler mit ihren Arbeiten zu Diskurs und Diskussion eingeladen werden; und schließlich das noch junge Instant-Festival, ein Format zur Förderung des Austauschs mit dem Studiengang für Szenische Künste der Universität Hildesheim, das wechselseitig in Gießen und Hildesheim stattfindet. Alle Festivals, aber auch die Präsentation von Szenischen Projekten und Praktischen Kursen werden begleitet von Kritikgesprächen, die einen institutsinternen, aber auch nach außen offenen kritischen Austausch über die eigene Praxis bilden und wesentlich die Diskussionskultur des Instituts prägen.
Seit 2020 betreibt das Institut für ATW sein "Theaterlabor / Performance Lab", eine hochmoderne Probebühne, die u.a. mit einer Spanndrahtseil-Zwischendecke ausgestattet ist, und dem künstlerischen Experiment ganz neue Räume eröffnet.

Die Absolventinnen und Absolventen des Instituts


Absolventinnen und Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaft arbeiten in allen Feldern von Tanz, Theater und Performance, in der bildenden Kunst, den Medien und der Wissenschaft. Seit nunmehr 30 Jahren mischen sie gleichermaßen das Stadttheater, die freie Szene und die Wissenschaft im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus auf. Réne Pollesch, Gob Squad, She She Pop, Rimini Protokoll, Showcase Beat Le Mot, Monster Truck, Auftrag : Lorey und viele andere haben die Theaterlandschaft mit nicht-hierarchischen, oft kollektiven Arbeitsweisen und einer je singulären Ästhetik nachhaltig verändert; Miriam Dreysse, Jens Roselt, Annemarie Matzke, André Eiermann oder Jörn Etzold, um nur einige wenige zu nennen, formulieren in der Wissenschaft an vielen Instituten im deutschsprachigen Raum neue Analysezugänge und Theorien für das Theater der Gegenwart. (Georg Döcker, 2012)

 

 

ATW30. Ein Festvortrag von Hans-Thies Lehmann
„Wenn einer in sein dreissigstes Jahr kommt“ – mit diesen Worten beginnt eine in meiner Jugendzeit berühmte Erzählung von Ingeborg Bachmann, in der es um die Erkenntnis sozialer und institutioneller Gefangenschaften und den Versuch des einzelnen zu seiner Befreiung daraus geht. Wenn nun ATW in ihr 30. Jahr kommt, eine Institution, die sich ganz wesentlich dem Ideal auch der Überwindung institutioneller Fesselungen der Kreativität verschrieben hat, ist man als ehemaliger Akteur versucht, sich in nostalgischen Erinnerungen zu ergehen und ein wenig werde ich, dass ich es nur gleich gestehe, dieser Versuchung auch nachgeben. Aber der Blick soll sich gerade bei diesem Geburtstagskind ebenso auf Gegenwart und Zukunft richten. Denn die Zeiten ändern sich, the world is a changing, und so muß man immer wieder neu die Frage nach den Möglichkeiten stellen, quer zu Konventionen und Erwartungen in Praxis und Lehre neue Wege zu gehen. Denn das ist das Leitmotiv von ATW.
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Ein Rückblick nach 20 Jahren ATW. Von Gerald Siegmund
Shakespeares Bühnenanweisungen, Max Reinhards Regiebücher und die Modellbücher von Bertolt Brecht - All das kann man studieren, wenn man in Deutschland Theaterwissenschaft studiert. Doch das Theater lebt im Hier und Jetzt. Es braucht den lebendigen Kontakt zum Publikum und dessen lebensweltlichem Umfeld. Theater muss erfahren werden. Was ist Theater, was grenzt es von anderen Kunstformen ab und welche Funktion kann es in einer sich verändernden Gesellschaft haben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Angewandte Theaterwissenschaft seit ihrer Gründung vor nunmehr zwanzig Jahren.
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