Ein Rückblick nach 20 Jahren ATW. Von Gerald Siegmund (German)
Shakespeares Bühnenanweisungen, Max Reinhards Regiebücher und die Modellbücher von Bertolt Brecht - All das kann man studieren, wenn man in Deutschland Theaterwissenschaft studiert. Doch das Theater lebt im Hier und Jetzt. Es braucht den lebendigen Kontakt zum Publikum und dessen lebensweltlichem Umfeld. Theater muss erfahren werden. Was ist Theater, was grenzt es von anderen Kunstformen ab und welche Funktion kann es in einer sich verändernden Gesellschaft haben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Angewandte Theaterwissenschaft seit ihrer Gründung vor nunmehr zwanzig Jahren.
Als alternatives Ausbildungskonzept, das der Wissenschaft ebenso Rechnung trägt wie der Praxis, wurde die Einrichtung eines theaterwissenschaftlichen Studiengangs mit einer Professur Ende der siebziger Jahre auf Initiative der Gießener Anglistik von den Literaturwissenschaften vorangetrieben. 1982 konnte mit dem international ausgewiesenen Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth der erste Professor berufen werden, der das Institut schnell bundesweit als Schmiede der Theateravantgarde bekannt machte. Denn dass das Theater nicht nur Umsetzung von Dramen ist, war allen Beteiligten klar. Vielmehr soll es als eigenständige Kunstform mit eigenen Ausdrucksmitteln in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt werden. Angelehnt an das anglo-amerikanische Modell der "Drama Departments" erhalten die Studenten, die eine künstlerische Eignungsprüfung absolvieren müssen, um zum Studium zugelassen zu werden, einerseits eine wissenschaftliche Ausbildung, an der auch die sogenannten Bausteinfächer (die Philologien sowie die Musikwissenschaft und die Kunstgeschichte) beteiligt sind. Andererseits sammeln sie bei Hospitanzen und Assistenzen an Stadttheatern oder an Medieninstituten erste Berufserfahrung. In Lehraufträgen wie z.B. zur Stimmbildung, zum Bewegungstraining oder zum Theaterrecht werden sie mit dem handwerklichen Rüstzeug des Theaters konfrontiert. Darüber hinaus sollen sie in eigenen szenischen Arbeiten ihre Vorstellung von Theater entwickeln und erproben, sowie in von künstlerischen Gastprofessoren geleiteten Projekten eine Vielfalt von Arbeitsweisen anderer kennen lernen. Nicht immer nur über die Verwendung des Lichts in einer bestimmten Inszenierung lesen oder schreiben, sondern auch einmal einen Scheinwerfer in der Hand gehabt zu haben, um mit ihm im Bühnenraum zu experimentieren - auch das heißt Forschen am Theater. Ein Forschen, das umgekehrt wiederum das kritische Nachdenken über Theater verändert.
Seit der Emeritierung von Andrzej Wirth 1992 und der Berufung der Theaterwissenschaftlerin und Romanistin Helga Finter 1991 zu seiner Nachfolgerin, hat sich die Ausrichtung des Instituts erweitert. Die Seite des Musiktheaters und der Medien durch Einladung namhafter Künstlern und Gastprofessoren wurde ausgebaut. Ausgehend von den historischen Avantgarden und den Theaterutopien an der Wende zum 20. Jahrhundert bezieht Professor Finter zunehmend vorbürgerliche Theaterformen wie das Theater der Renaissance und des Barock in die Arbeit am Institut mit ein. Als Gesamtkunstwerke ihrer Zeit, die mit den jeweils aktuellen Medien gearbeitet haben, erscheinen diese Theaterformen als Folien für zeitgenössische Theaterpraktiken, die der zunehmenden Medialisierung der Gesellschaft Rechnung tragen. Das Verhältnis von Sehen und Hören sowie die Theatralität der menschlichen Stimme rücken so ins Zentrum der Betrachtung.
Dass das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Mitglied des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) der Universität Gießen ist, erscheint vor diesem Hintergrund fast selbstverständlich. Mit Gabriele Brandstetter, die von 1993 bis 1997 Professorin am Institut war, kam außerdem ein tanzwissenschaftlicher Schwerpunkt hinzu, der seither durch Gäste und Mitarbeiter weitergeführt wird.
Seit der Berufung des Komponisten und Theaterregisseurs Heiner Goebbels zum Sommersemester 1999 trägt das Institut seiner doppelten Ausrichtung von Theorie und Praxis auch auf institutioneller Ebene Rechnung. Professor Goebbels arbeitet mit den Studierenden in multimedialen szenischen Projekten und an ihren eigenen künstlerischen Vorhaben, was eine erhebliche Verbesserung der Ausbildungssituation am Institut bedeutet. Unter seiner Ägide wurden auch die technischen Produktionsmittel am Institut erweitert. Zusätzlich zur Probebühne, die von Anfang an zur Ausstattung des Instituts gehörte, sind in den vergangenen drei Jahren ein digitales Tonstudio und Videostudio eingerichtet worden. Sie werden von Studierenden rund um die Uhr zur Produktion von eigenen Hörspielen oder Videofilmen genutzt. Dass die dabei entstehenden Arbeiten Bestand haben, zeigen die zahlreichen Preise und Festivalauftritte, die Studierende des Instituts erhalten und absolviert haben ebenso wie viele Sendungen in deutschen Rundfunkanstalten mit am Institut entstandenen Hörstücken.
In den vergangenen beiden Jahren haben sich die Aktivitäten des Instituts vervielfältigt. Neben den regelmäßig im Frühjahr und im Herbst in Gießen stattfindenden Festivals "Theatermaschine" und "Diskurs" sind "die Gießener" auch verstärkt "auswärts" präsent. Immer öfter erhalten die Lehrenden des Instituts Anfragen von deutschen und europäischen Theatern, Festivals und Ausbildungsstätten, die an gemeinsamen Workshops mit Studierenden oder Aufführungen interessiert sind. Im Juni vergangenen Jahres gestalteten Studierende unter Anleitung von Prof. Goebbels in Rahmen der Hessischen Theatertage in Kassel eine einwöchige Programmreihe, "atw. en suite", wo sie neben Performances auch ihre Hörspiele und eigens erarbeitete Rauminstallationen einem breiteren Publikum vorstellten. Bis September 2002 waren in Brügge Klanginstallationen von Studierenden des Instituts an verschiedenen Orten der Stadt wie z.B. in einer Tiefgarage oder an einer Kanalbrücke zu sehen und zu hören, die im Rahmen eines szenischen Projekts bei Prof. Goebbels entwickelt wurden. Was vor zwei Jahren mit einer Zusammenarbeit zwischen der Giessener Theaterwissenschaft und dem Medienlabor "La Fabrica" in Italien begann (das Projekt wurde auch in London aufgeführt), ist mittlerweile zu einer schönen Regelmäßigkeit geworden, die zur nationalen wie internationalen Vernetzung des Instituts wesentlich beiträgt. In Dresden-Hellerau sollen im Juni ebenso Aufführungen stattfinden wie beim "Festival junger Talente" in den Messehallen der Stadt Offenbach. Letzteres steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der im vergangenen September gegründeten Hessischen Theaterakademie, einem Dachverband hessischer Theaterausbildungszentren, der in Zukunft eine stärkere Kooperation ermöglichen soll.
(Gerald Siegmund)